083 - Das Gasthaus an der Themse
Lordschaft noch der arme Schlucker von früher, dachte Wade, gäbe es eine einfache Erklärung. Damals war ihm jedermanns Geld recht und eine Fünfpfundnote fast ein Vermögen für ihn. Doch jetzt hat er ein gutes Einkommen.
Wade beschloß, sich nach der Herkunft dieses Einkommens zu erkundigen. Vielleicht war das gar nicht die erste Begegnung zwischen Lord Siniford und Captain Aikness gewesen. Möglicherweise brachten die Ermittlungen, die er in dieser Richtung anstellte, interessante Dinge ans Licht. Immer wieder kehrten seine Gedanken, und mochten sie noch so weit abgeschweift sein, zu dem Sänger zurück, der in dem Wagen, mit dem Anna nach London gebracht wurde, neben dem Chauffeur gesessen hatte.
Und es war fast, als hätten seine intensiven Gedanken die Kraft, einen Menschen in Erscheinung treten zu lassen, denn noch am selben Abend sah er den Mann, an den er dachte. Wade hatte sich im Yard zurückgemeldet und einen kurzen Bericht über sein Tagewerk geschrieben. Dann war er in das wenig schöne Viertel zurückgekehrt, in dem er wohnte. Sein Weg führte ihn durch einen jener kleinen, geschäftigen Märkte, die für gewisse Londoner Straßen typisch sind. Zu beiden Seiten der Fahrbahn reihte sich eine Verkaufsbude an die andere. Gaslaternen und Kerosinlampen verbreiteten grelles Licht, und auf den Gehsteigen drängten sich die meist armen Leute, die hier alles erstehen konnten, was ihr Herz begehrte — vom Sonntagsbraten bis zu einem fast neuen Kleid. In einem bestimmten Teil des Marktes bekam man »alles für den Garten«. Jeder Londoner findet auch noch im kleinsten Hinterhof Platz für ein paar Blumen. Bei den Straßenhändlern, die sich auf diese Liebhaberei der Bewohner des East End eingestellt hatten, florierte das Geschäft. Hier gab es einfach alles - Blumenzwiebeln und Setzlinge, kümmerliche Rosenstöcke, üppig blühende Stiefmütterchen, späte Narzissen und nicht veredelte Bäumchen.
An einem Stand suchte ein Mann Stiefmütterchen aus, und der Verkäufer stellte die Pflänzchen in eine flache, erdige Kiste. Der Mann wählte die Blumen mit großer Sorgfalt, ohne zu merken, daß hinter ihm ein Polizeibeamter stand, der sich sehr für ihn interessierte. Es war ein kleiner Mann in der wetterfesten Kleidung eines Straßenarbeiters. Seine Cordhose wurde von mehreren Riemen gehalten, die er sich kunstvoll um die Taille und die Hosenbeine geschlungen hatte. Auf dem Kopf trug er eine große, neue Mütze. Er war glattrasiert, hatte ein weiches Kinn und eine große goldgefaßte Brille auf der Nase. Wade fiel auf, daß er nur gelbe Stiefmütterchen aussuchte. Endlich war der Kauf getätigt, die Kiste wurde mit Pappe zugedeckt, der Mann bezahlte, überquerte die Straße und verschwand in einer dunklen Seitengasse.
Vielleicht hatte er den Inspektor bemerkt, vielleicht auch nicht. Doch als Wade ihm von hinten auf die Schulter tippte, ließ er fast die Blumenkiste fallen. Falls er Wade vorhin nicht erkannt hatte, jetzt tat er es, und seine Lider hinter der Brille flatterten nervös. »Ich fürchte, das ist ein Irrtum, Mister«, sagte er. »Komisch, daß Sie mich für jemand anders halten. Aber die Polizei macht ja ununterbrochen Fehler.« »Und Sie haben eben auch einen kleinen Fehler gemacht, nicht wahr?« erwiderte Wade. »Woher wissen Sie denn, daß ich Polizeibeamter bin? Jetzt müssen Sie mir alles über Ihre Seereise erzählen. Sie sind wahrscheinlich zu Fuß zurückgekommen, denn die ›Seal of Troy‹ muß inzwischen ungefähr tausend Seemeilen weit weg sein. Was für ein Genie Sie doch sind, Golly! Spazieren einfach zu Fuß über den Atlantik. Daß Sie sich nicht verirrt haben! Hatten Sie einen Kompaß dabei? Und wie geht es Captain Aikness und all den anderen netten Leuten an Bord?«
Golly Oaks seufzte tief, und Wade wußte, daß er jetzt etwas zu hören bekam, das der Wahrheit ein bißchen näher war. »Es hat keinen Sinn, Sie anzulügen, Inspektor, Sie haben Augen wie ein Falke«, sagte Golly Oaks resigniert. »Es stimmt schon, ich bin es. Und die Wahrheit ist — ich bin getürmt.« Wade schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Von Ihrem Schiff desertiert?
Aber das ist strafbar, Golly!« »Nein, ich bin meiner Alten ausgerissen«, erwiderte Oaks kurzatmig. »Ganz unter uns, Inspektor, ich war nie auf See. Mrs. Oaks ist eine sehr schwierige Person, und ich hab's nicht mehr bei ihr ausgehalten. Ich habe ihr gesagt, daß ich gehe, aber sie hat's nicht geglaubt. Als sie dann merkte, daß ich Ernst
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