Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
083 - Das Gasthaus an der Themse

083 - Das Gasthaus an der Themse

Titel: 083 - Das Gasthaus an der Themse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Wallace
Vom Netzwerk:
daß John Wade sie suchte. Ihr Vertrauen in die Polizei grenzte an Fanatismus. Als Golly Oaks sie besuchte, war das für sie ein großes Ereignis. Sie mochte ihn, obwohl sie ihn für einen kleinen Gauner hielt. Doch ihrer Meinung nach war er nur ein Opfer seiner Umgebung.
    Sie saß beim Frühstück, als die Tür aufging und er hereinkam. Er trug gewöhnlich Hüte, die ihm ein bißchen zu klein waren, oder Mützen, die seine Ohren bedeckten. Heute war es ein hoher Derbyhut, der seinen Kopf wie eine schlechtsitzende Krone schmückte. Die goldgefaßte Brille, das rötliche Bärtchen und die gewöhnliche und schäbige Kleidung machten ihn in dieser eleganten Umgebung zu einem absoluten Außenseiter. Aber er strahlte über sein ganzes häßliches Gesicht. »Ja, Mr. Oaks!« rief Lila überrascht und stand auf. »Setz dich, meine Liebe. Ich würde gern eine Tasse Tee mit dir trinken, wenn du eine übrig hast.« Erst jetzt fiel ihr auf, daß auf dem Tablett zwei Tassen standen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf den Boden und rieb sich mit dem Taschentuch über das spärliche Haar. »Das ist ein Leben, wie!« sagte er. »Wie schon der berühmte Sokrates meint...«
    Er sagte etwas, das für sie wie ein völlig unverständliches Kauderwelsch klang. Woher hätte sie wissen sollen, daß er reines Altgriechisch sprach? Er konnte viele Sprachen lesen und beherrschte sie fließend, doch seine Zitate beschränkten sich auf Banalitäten, die jeder Schuljunge kennt. Da er ein erstaunliches Gedächtnis hatte, war dieser Zitatenschatz unerschöpflich. »Fühlst du dich wohl, Lila?«
    Sie zögerte. »Ja, ich fühle mich wohl, aber wohin fahren wir, Mr. Oaks?«
    Er blickte über die Schulter zurück zur Tür und senkte die Stimme. »Das weiß Gott allein«, sagte er. »Niemand weiß, wo er am nächsten Tag sein wird. Ich dachte, ich würde heute im ›Mekka‹ sein - dis aliter Visum.« Betroffen sah sie ihn an. »Ist Mrs. Oaks an Bord?« »Sie konnte nicht kommen«, antwortete er, »sie hat viel zu tun. Was für eine Frau, Lila!« Seine kleinen blauen Augen beobachteten sie. »Was für eine Dame, was für eine Tatarin! Für einen Mann die beste Gehilfin, die man sich vorstellen kann.« Er sah sich mit einem gewissen Stolz in der Kabine um, und das überraschte Lila. Sie hätte geglaubt, er werde sich in der ungewohnten Umgebung unbehaglich fühlen, doch statt dessen tat er so, als sei er der Besitzer.
    »Das ist ein Tintoretto«, sagte er und zeigte auf ein Bild. »Das Gemälde stammt aus seiner zweiten Schaffensperiode, und er muß schon ziemlich alt gewesen sein, als er es malte. Viele der sogenannten Tintorettos sind Arbeiten seiner Schüler. Das schwarz-weiße Ding dort hinter dem Piano hat Sansovino gezeichnet. Und das Bild dort drüben stammt von Bellini - es ist nicht besonders gut, aber er gehört für mich ohnehin nicht zu den ganz Großen. Ich persönlich ziehe die Venezianer vor, die Florentiner können mir eigentlich gestohlen bleiben.« Lila hörte mit offenem Mund zu. Dieser kleine Mann, den sie bisher für einen Niemand gehalten hatte, der sich ihres Wissens nur für seine Tageszeitung, seine Pfeife und das Holzhacken interessierte, äußerte seine Kritik mit der unerschütterlichen Selbstsicherheit eines Gelehrten.
    »Aber Mr. Oaks, ich wußte ja gar nicht, daß Sie so viel von Kunst verstehen«, sagte sie anerkennend. Er lächelte selbstgefällig. »Nun ja, ein bißchen verstehe ich schon davon. Aber meine eigentliche Liebe gehört der Musik. Man sagt mir nach, ich hätte eine Stimme wie Caruso.« Zu ihrem größten Erstaunen ging er zu dem kleinen Klavier hinüber, setzte sich und begann zu spielen. Träumte sie? Er spielte meisterlich. Und dann begann er zu singen. Er besaß eine ungewöhnlich hohe Falsettstimme. Bisher hatte Lila sie nur von weitem gehört, wodurch das Schlimmste verhütet wurde. Aber hier, in diesem engen Raum, war das Heulen und Quieken kaum zu ertragen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er endlich aufhörte und sich strahlend zu ihr umdrehte. »Nun?«
    »Wunderbar!« stieß sie hervor. »Ich — ich habe gar nicht gewußt, daß Sie - singen können.« »Das wissen nur wenige Menschen«, sagte er. »Sehr wenige.« War er verrückt, oder glaubte er wirklich, dieses entsetzliche Katzengejaule habe auch nur im entferntesten Ähnlichkeit mit einem Gesang? Und als habe sie ihre Frage laut gestellt, antwortete er sofort: »Ich weiß und gebe zu, daß ich nicht modern singe. Leute, die keinen Geschmack

Weitere Kostenlose Bücher