083 - Das Gasthaus an der Themse
nahen Cafe und brachte ein reichhaltiges Frühstück für Mrs. Oaks. Eine Aufseherin trug es in die Zelle der Gefangenen.
Wade kam nur wenige Minuten später, und gerade befand er sich auf dem Gang, der in die Frauenabteilung führte, als die Oberaufseherin ihm in höchster Aufregung entgegengelaufen kam. Sie rief dem Diensthabenden zu, er solle sofort einen Arzt verständigen, und machte wieder kehrt. Wade holte sie mit ein paar Schritten ein und hielt sie am Arm fest. »Jemand krank geworden?« fragte er. »Die Nummer neun - Ihr Fall, Inspektor. Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Ich hatte es gar nicht gemerkt, aber sie hat das Frühstückstablett auf den Boden fallen lassen.«
Wade lief hinter der Frau her. Die Zellentür von Nummer neun stand offen, und ein Aufseher hatte Mrs. Oaks eben mühsam auf die hölzerne Pritsche gelegt, die als Bett diente. Ihr Gesicht war grau, die Lippen völlig blutleer. Wade beugte sich über sie, hörte aber weder ein Atemgeräuch noch hob oder senkte sich ihre Brust. Er nahm ihre Hände. Sie waren eiskalt, und obwohl er sich größte Mühe gab, konnte er keinen Puls fühlen. Während er sich um Mrs. Oaks kümmerte, kam der Polizeiarzt. Die Untersuchung dauerte nicht lange, dann sagte er sehr entschieden: »Sie ist tot.«
Er schnupperte, beugte sich wiederum über die Tote, roch noch einmal an ihren Lippen.
»Wenn das nicht Blausäure ist, will ich Jim heißen«, sagte er.
»Sie hat Selbstmord begangen.« Aber so gründlich man auch Mrs. Oaks' Zelle und Kleidung durchsuchte, man fand weder ein Fläschchen noch eine Phiole, die das Gift enthalten haben konnte. Zum Glück hatten, als das Tablett hinunterfiel, Tee- und Milchkännchen auf dem Tisch gestanden. »Schickt sie sofort ins Labor zur chemischen Analyse«, sagte Wade. Er war betroffen, wollte seinen Augen nicht trauen. Mrs. Oaks war eine gesunde Frau und wohl die letzte gewesen, die Selbstmord begangen hätte. Und sie mußte sterben - aus demselben Grund wie Lord Siniford ein paar Tage vorher.
Mit der Aufseherin, die Mrs. Oaks das Frühstückstablett gebracht hatte, machte Wade sich auf die Suche nach der Kellnerin, und sie fanden sie auch bald in dem trübseligen, kleinen Lokal, das meist die Verpflegung für die Gefangenen lieferte. Zunächst war wenig Aufschlußreiches von der Frau zu erfahren. Sie sollte das Tablett in das nur ungefähr hundert Schritte entfernte Polizeigefängnis bringen. Den Tee und die Milch hatte sie willkürlich aus x-beliebigen Warmhaltekannen genommen, die den ganzen Tag bereitstanden. »Wem sind Sie unterwegs begegnet?« fragte Wade. Zuerst konnte sie sich nicht erinnern, doch dann fiel ihr ein, daß zwei Männer sie angesprochen und nach dem Weg zur Hauptstraße gefragt hatten — Ausländer, wie sie glaubte. Sie hatte sich umgedreht und mit dem Kopf in die Richtung gezeigt, in die sie gehen mußten. »Ein simpler Trick«, sagte Wade später zu Elk. »Der eine der beiden Männer lenkte sie ab, und der zweite schüttete das Gift in den Tee oder in die Milch. Ich tippe auf die Milch, weil das Teekännchen einen Deckel hat, der Milchkrug aber offen ist.« »Haben Sie eine Beschreibung der beiden Männer?« fragte Elk. »Die Kellnerin konnte uns nur sagen, daß sie wie Ausländer aussahen«, antwortete Wade. »In dieser verdammten Stadt scheinen sich die ›ausländisch‹ aussehenden Leute gegenseitig auf die Füße zu treten. Ich habe einen Beamten des zuständigen Reviers beauftragt, nach der Beschreibung der Frau von beiden Männern Skizzen anzufertigen. Es besteht jedenfalls nicht der geringste Zweifel, daß Mrs. Oaks vergiftet wurde. Man glaubte, ich würde sie zum Reden bringen — und hatte damit nicht einmal so unrecht.«
Wade war halb tot vor Müdigkeit und Sorge um Lila, verbiß sich aber geradezu in die Aufgabe, die beiden Fremden zu finden, die heute morgen in der Umgebung des Polizeigefängnisses gesehen worden waren. Er hatte Glück. Ein Milchmann hatte die beiden gesehen und bemerkt, daß sich am Schuh des einen der Gummiabsatz löste und schon halb herunterhing. Es war ein schwacher Hinweis, aber eine knappe Viertelstunde, nachdem Wade die Meldung bekommen hatte, kontrollierten zwölftausend Polizisten alle Absätze, die an ihnen vorüberkamen. Um drei Uhr sahen sich zwei Männer, die über die Brixton Road schlenderten, von uniformierten Polizisten und Kriminalbeamten in Zivil umringt. Man brachte sie aufs Revier und durchsuchte sie. Beide waren Ausländer. Wade kam selbst, um
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