083 - Das Gasthaus an der Themse
haben oder nichts davon verstehen, ziehen andere Sänger vor, aber in zehn Jahren wird meine Stimme epochemachend sein.« Sie wechselte schnell das Thema und fragte ihn nach dem Namen des Schiffes, mit dem sie fuhren. »Es ist die ›Rikiriki‹«, antwortete er prompt. »Sie war ein indisches Schiff. Der Captain hat sie für ein Butterbrot gekauft — eins der schnellsten Boote der Welt.« »Wo sind wir jetzt, Mr. Oaks?«
»Onkel Golly«, korrigierte er vorwurfsvoll. »Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst mich Onkel Golly nennen.
— Wo wir jetzt sind?« er sah umständlich auf seine Uhr. »In der Nähe von Gravesend — vielleicht noch nicht ganz so weit. Wir warten auf den Lotsen.« Jetzt wurde Lila zum ersten Mal unruhig. »Auf den Lotsen?« fragte sie bestürzt. »Wollen wir denn aufs offene Meer hinaus? Wohin denn, Mr. Oaks - Onkel Golly?« Er schüttelte den Kopf. »Ich schicke dir den Captain, er wird es dir sagen.« »Den Captain? Meinen - meinst du Mr. . . .« »Er heißt Aikness«, unterbrach er sie. »Egal, wie du ihn früher genannt hast. Er ist der nette Herr, der dich ab und zu zum Essen geführt hat.« Oaks kniff die Augen zusammen und sah sie forschend an. »Er ist doch nett, nicht wahr? War immer wie ein Vater zu dir, den du ja nie hattest. Er ist achtundfünfzig. Wenn er dir einzureden versucht, er sei erst zweiundfünfzig, dann lügt er.« Nach dieser scheinbar sinnlosen Erklärung winkte er Lila fröhlich zu und verließ die Kabine.
19
Er hatte ihr viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Der Golly Oaks, den sie bisher gekannt hatte, war für immer verschwunden. Ein ganz neuer Mensch, phantastisch, unwirklich. Lila hatte sich eigentlich von Anfang an nicht sehr gefürchtet, doch seit sie wußte, daß er an Bord war, hatte sie fast überhaupt keine Angst mehr. Sie mochte ihn lieber als seine Frau, und sie waren immer die besten Freunde gewesen, ihr hatte er seine Sorgen anvertraut. Er spielte Klavier wie ein Meister und sang wie ein...
Sie würde ihn fragen, ob sie an Deck gehen durfte. Die Luft in der Kabine war zwar frisch, aber sie wollte den Wind im Haar fühlen und das Tageslicht sehen. Captain Aikness kam kurz vor dem Lunch. Er war nicht in Uniform, sondern trug einen Flanellanzug und einen weichen Filzhut. Er fragte Lila, ob Oaks am Morgen bei ihr gewesen sei, und als sie verneinte, schien er erleichtert. »Ist Lord Siniford auch an Bord?« fragte sie jetzt ihn, was sie eigentlich Oaks hatte fragen wollen. Er verzog leicht das Gesicht, als sei ihm das Thema höchst unangenehm. »Nein, er ist nicht hier«, antwortete er kurz angebunden. »Vergiß diesen Menschen, Lila, er ist deiner nicht wert. Er verdient keine anständige Frau.« Das war eine Erleichterung für sie, eine große Erleichterung. Seit sie sich an Bord befand, hatte sie erwartet, daß sich plötzlich die Tür öffnen und das plumpe Gesicht Seiner Lordschaft auftauchen würde. Aber nicht nur Golly Oaks, auch Captain Aikness verhielt sich anders als früher. Bei ihren gelegentlichen Zusammenkünften war er der Überlegene gewesen, und sie hatte mit fast ängstlicher Ehrfurcht zu ihm aufgeblickt. Er erschien ihr als eine fast mythische Gestalt. Jetzt wirkte er merkwürdig nervös, setzte mehrmals zum Sprechen an, räusperte sich, brachte irgendeinen bedeutungslosen Satz hervor und verstummte wieder. Auf einmal fragte er: »Für wie alt hältst du mich, Lila?« »Für achtundfünfzig«, antwortete sie prompt, doch die Antwort schien ihm nicht zu gefallen. »Ich bin zweiundfünfzig«, entgegnete er scharf. »Oaks hat also geredet. Immer wieder behauptet er diesen Unsinn.
Ich werde am dritten Juli zweiundfünfzig, bin also noch verhältnismäßig jung und habe noch zwanzig beste Jahre vor mir.« Da er das gar so laut und fast trotzig betonte, fragte sie sich, was wohl als nächstes kommen würde. Halb erriet sie es freilich schon. »Wenn du je heiratest, meine Liebe«, sagte er denn auch nicht völlig unerwartet, »dann mußt du dir einen Mann aussuchen, der viel älter ist als du. Einen Mann von Welt, einen, der dich behütet und alles Schlimme von dir fernhält.« Er ging zur Tür, öffnete sie, schaute hinaus, schloß sie wieder und kam zu Lila zurück. »Als ich von meiner letzten Reise zurückkehrte, begriff ich, daß du kein Kind mehr warst, und da hat es mich irgendwie gepackt.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Verstehst du, wie ich das meine? Du hast angefangen, mir etwas zu bedeuten, und das
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