083 - Der Mann aus der Retorte
einsetzen." „Niemand sagt, daß er den Golem zu den Untaten angestiftet hat", meinte ich. „Es ist ja nicht einmal sicher, daß er ihn erschaffen hat."
„Ich muß mit dem Rabbi sprechen", stieß David hervor. „Sofort. Ich muß mir Gewißheit verschaffen."
„Darf ich mitkommen?"
David nickte und sprang auf.
Zwanzig Minuten später stiegen wir vor dem Haus des Rabbis von den Pferden.
David griff nach dem schweren Türklopfer. Einige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Ein schlanker junger Mann trat heraus.
„Ich muß zum Rabbi", sagte David rasch.
Der junge Mann führte uns ins Haus. Es war einfach eingerichtet. In einem kleinen Zimmer bat er uns, Platz zu nehmen.
David konnte nicht ruhig sitzen. Er war noch immer bleich, und seine Brauen zuckten nervös. Immer wieder ballte er die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf.
„Beruhige dich, David!" sagte ich.
Er biß sich auf die Lippen und wandte rasch den Kopf nach links, als er leise Schritte hörte.
Die Tür wurde geöffnet, und Rabbi Jehuda Loew ben Besalel trat ins Zimmer.
„Seid willkommen, weiser David Gans, mein treuer Freund!" sagte der Rabbi mit sanfter Stimme. „Auch ich begrüße Euch, Rabbi", sagte David mit bebender Stimme. „Gestattet, daß ich Euch Michele da Mosto vorstelle."
Ich deutete eine Verbeugung an.
Der Rabbi kam näher. Er war mittelgroß, und sein Haar und der lange Bart waren schlohweiß. Selten zuvor hatte ich so viel Weisheit und Güte in eines Menschen Augen gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß dieser sanfte Mann den Golem zu den Untaten angestiftet hatte.
Der Rabbi wies einladend auf die Stühle, und wir nahmen Platz; die angebotene Erfrischung lehnte wir ab.
„Was führt Euch zu so später Stunde in mein Haus, meine Herren?"
Ich überließ David die Führung des Gespräches.
„Habt Ihr vom Auftauchen eines unheimlichen Monsters gehört, Rabbi Loew?"
„Ich hörte davon", meinte der Rabbi.
„Mehr habt Ihr dazu nicht zu sagen?"
„Ich verstehe Eure Frage nicht, David Gans."
„Dann will ich ganz offen fragen, Rabbi Loew. Habt Ihr einen künstlichen Menschen erschaffen?" Das hagere Gesicht Loews blieb unbeweglich. Es sah wie eine Totenmaske aus; nur die dunklen Augen schienen zu leben.
„Auf diese Frage gebe ich Euch keine Antwort."
„Ihr müßt. Ich muß Gewißheit haben. Alles weist darauf hin, daß in Eurem Haus das Monster zu finden ist."
„Unmöglich", sagte der Rabbi fast unhörbar.
Steile Falten erschienen auf seiner Stirn.
„Das Ungeheuer ist real", sagte David hart. „Meine Freund hat es vergangene Nacht verfolgt. Es raubte ein Mädchen, das es in ein einsames Haus brachte. Dann kehrte das Monster in die Stadt zurück, betrat das Judenviertel und verschwand in Euerm Haus, Rabbi Loew."
Die Lippen des Alten bebten jetzt. Er atmete schwer.
„Ich kann es nicht glauben", sagte er tonlos. „Es ist nicht möglich."
„Ihr gebt also zu, daß Ihr das Monster geschaffen habt?"
„Nein, das - gebe ich - nicht zu", sagte der Rabbi stockend. „Mir gelang vor einiger Zeit etwas, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich schuf aus Lehm einen künstlichen Menschen. Dabei ging ich genau nach den alten Anweisungen vor. Der Golem erwachte zum Leben. Er konnte nicht sprechen, aber er verstand mich, gehorchte und führte meine Befehle aus. Doch nach ein paar Tagen wurde mir der Golem immer unheimlicher. Er wuchs täglich um ein Stück. Innerhalb von vierzehn Tagen war er fast drei Meter groß. Er jagte mir Furcht ein. Ich befahl ihm, sich niederzulegen, und löschte das E von Emeth. Alles Leben wich daraufhin aus seinem Körper. Er lag wie tot da. Ich versuchte seinen Körper zu verbrennen, doch es gelang mir nicht. Mit drei Klammern, die ich in der Stirn des Golems befestigte, verdeckte ich die Schriftzüge. Das Zimmer, in dem das leblose Geschöpf lag, sperrte ich ab. Jede Woche sah ich zumindest einmal in das Zimmer. Der Golem lag immer leblos da. Als die ersten Gerüchte vom Auftauchen eines riesigen Ungeheuers zu hören waren, vermutete ich, daß es sich dabei um einen künstlichen Menschen handelte. Aber es konnte nicht der sein, den ich geschaffen hatte. Ich nahm an, daß es irgend jemandem gelungen war, dieses Experiment ebenfalls erfolgreich durchzuführen."
„Ihr habt also den Golem erschaffen", flüsterte David mit versagender Stimme. „Zeigt uns das grauenvolle Geschöpf!"
Der Rabbi gehorchte. Er nahm einen Kerzenleuchter und ging voraus. Wir folgten ihm.
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