083 - Der Mann aus der Retorte
Er schritt einen langen Korridor entlang und blieb vor einer hohen Tür stehen, die er aufsperrte.
Neugierig traten wir ein.
Der Golem lag auf dem Boden. Die mächtigen Arme hatte er über der Brust gekreuzt.
„Seht selbst, er ist leblos!" sagte der Rabbi.
Für mich gab es keinen Zweifel: es war das gleiche Geschöpf, das ich vorher schon zweimal gesehen hatte.
Der Rabbi entfernte die Klammern, und ich sah, daß tatsächlich das E gelöscht war.
„Wie kann der Golem wieder zum Leben erweckt werden?" fragte ich.
„Für einen Eingeweihten ist es ziemlich einfach", sagte der Rabbi. „Man braucht nur das E zum meth dazuschreiben und ein Wort sagen. Dann erwacht er."
„Dazu ist also jeder in der Lage, der das Wort kennt?"
Der Rabbi nickte.
„Hört Euch meine Theorie an, Rabbi Loew", sagte ich. „Irgend jemand hat erfahren, daß Ihr den Golem geschaffen habt."
„Das kann ich nicht glauben."
„Es muß aber so sein, Rabbi Loew. Am Freitag, vor Einbruch der Dunkelheit, versammelt Ihr Euch in der Synagoge. Stimmt das?"
Der Rabbi nickte.
„Da sind die Häuser für einige Zeit menschenleer, nicht wahr?"
Wieder nickte der Rabbi zustimmend.
„Es dürfte also ziemlich leicht sein, in Euer Haus zu kommen. Der Unbekannte schleicht sich zum Golem, erweckt ihn zum Leben und befiehlt ihm, nach Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Nachdem es die Befehle des Unbekannten ausgeführt hat, kehrt das Monster zurück in Euer Haus."
„Hm, das wäre eine Möglichkeit", sagte der Rabbi. „Aber ich kann es einfach nicht glauben." „Würde der Golem einem anderen außer Euch gehorchen?"
„Ja, das würde er tun."
„Jetzt müssen wir erfahren, wer der Unbekannte ist. Habt Ihr eine Vermutung?"
„Nein, ich kann mir nicht vorstellen, wer außer mir vom Golem wußte. Halt! Da fällt mir etwas ein. Vor mehr als einem halben Jahr wurde mein Arbeitszimmer durchsucht. Ich maß diesem Vorfall keine große Bedeutung bei; aber möglicherweise suchte irgend jemand nach meinen Unterlagen." „Habt Ihr Aufzeichnungen über die Schaffung des Golem gemacht?"
„Ja, aber ich verbrannte sie vor einiger Zeit."
Wir verließen das Zimmer, in dem der Golem lag. Der Rabbi versprach, daß er das Zimmer bewachen würde.
Ich hoffte, daß ich den Unbekannten morgen kennen würde. Sollte die Totenbeschwörung jedoch keinen Erfolg zeitigen, dann blieb uns nichts anderes übrig, als in vierzehn Tagen im Haus des Rabbis auf den Unbekannten zuwarten.
Der Rabbi wirkte völlig niedergeschlagen. Er machte sich die größten Vorwürfe, was nur zu verständlich war.
David und ich vereinbarten, daß wir zu keinem Menschen etwas über den Golem sagen würden.
Am nächsten Tag gelang es mir endlich, mit John Dee zu sprechen. Ich erzählte ihm, daß es mir gelungen war, das Monster zu verfolgen, doch ich behauptete, daß ich es dann aus den Augen verloren hätte. Als ich von den toten Mädchen erzählte und berichtete, daß Barbara Neumann morgen begraben werden würde, sah er mich neugierig an.
„Sprich nicht weiter, Michele!" sagte er. „Ich weiß, worum du mich bitten willst. Du willst die Tote beschwören."
„Ja, das will ich. Und dazu benötige ich deine Hilfe."
„Die Beschwörung der Toten ist eine riskante Sache. Wenn die Sterne schlecht stehen, dann kann sich der Tote leicht gegen den Magier wenden. Komm in einer Stunde wieder, Michele! Ich werde die Sterne befragen."
Eine Stunde später war ich zur Stelle.
„Die Sterne sind günstig", meinte Dee lächelnd.
„Du hilfst mir also?"
Er nickte schweigend.
„Soll ich irgendwelche Gegenstände besorgen, die wir zur Beschwörung benötigen?"
„Nein, das laß nur meine Sorge sein. Wir treffen uns um elf Uhr vor der St. Martins-Rotunde."
Es war eine scheußliche Nacht. Ein beißender Wind peitschte uns den Regen ins Gesicht.
Dee und sein Gefährte Kelley warteten bereits. Ich sprang vom Pferd und ging auf Dee zu, der in der rechten Hand eine große Tasche trug.
Edward Kelley und Franca Marzi blieben bei den Pferden, während Dee und ich den Friedhof betraten. Der Regen wurde immer heftiger.
Nach wenigen Minuten hatten wir die Aufbahrungshalle erreicht. Das Tor war abgesperrt. Wir mußten das Tor gewaltsam aufsprengen.
Rasch betraten wir die Halle. Ich drückte die Tür zu und schlüpfte aus meinem Umhang. Dee zündete zwei Fackeln an und reichte mir eine.
Die Aufbahrungshalle war klein. Zwei Särge standen in Nischen. In dem einen Sarg lag ein alter Mann, im
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