083 - Der Mann aus der Retorte
zweiten fanden wir Barbara Neumann.
Die Tote trug ein hochgeschlossenes, weißes Totenhemd. Ihr Gesicht war etwas aufgedunsen, die Lider waren geschlossen. Das korngelbe Haar war sorgfältig frisiert. Das Mädchen war nicht älter als achtzehn Jahre.
„Wir müssen sie aus dem Sarg heben", raunte mir Dee zu.
Ich packte mit an. Sekunden später lag das Mädchen auf dem Steinboden in der Halle.
„Zieh ihr das Hemd aus!" befahl Dee. „In der Zwischenzeit treffe ich einige Vorbereitungen."
Die Fackeln steckten wir in Halterungen. Sie erhellten die Halle nur notdürftig.
Ich kniete nieder und zog der Toten das Hemd aus. Ihr Körper war eiskalt. Das Hemd legte ich über den Sarg. Dann packte ich eine Fackel und studierte den nackten Leib des Mädchens. Ihre Kehle war durchschnitten. Damit hatte ich gerechnet, aber nicht, daß ihr Körper über und über mit kleinen Schnitten bedeckt war. Ich wälzte das tote Mädchen auf den Rücken; auch der war voller langer Schnitte. Stellenweise fehlte die Haut.
„Sieh dir mal die Tote an, John!" bat ich meinen Freund.
Dee untersuchte das Mädchen, dann brummte er böse.
„Mit dem Mädchen wurde herumexperimentiert. Ihr Bauch wurde geöffnet."
„Was hat das zu bedeuten?"
„Das werden wir hoffentlich bald erfahren", meinte Dee und setzte seine Vorbereitungen zur Beschwörung fort.
Interessiert sah ich ihm zu. Dee rieb den Leib des Mädchens mit einer stinkenden Salbe ein. So war ich damals auch vorgegangen, als ich Vitelli zum Leben erweckt hatte. Zwei Kerzen standen neben der Toten auf dem Boden. Dee zündete sie an. Danach schrieb er einige seltsame Zeichen auf die Brust der Toten und schüttete ein gelbes Pulver in ihre offene Kehle.
„Ich habe eine neue Methode gefunden, um Tote für kurze Zeit zu erwecken. Sie ist recht einfach." Ich stellte mich neben Dee, der einen magischen Kreis um uns zeichnete, in den er einige Namen schrieb. In die rechte Hand nahm er einen geweihten Haselnußstock, mit dem er rasche Bewegungen vollführte. Dee kannte die Beschwörungsformel auswendig. Er murmelte die Zaubersprüche. Plötzlich bewegte er sich nicht mehr. Wie eine Statue stand er da. Der Stock wies auf die Tote.
„Ihr Geister", sagte er laut, „steht mir bei!"
Dann zitierte er wieder aus dem magischen Buch Le Petit Albert.
Das gelbe Pulver, das er in die Kehle des Mädchens geschüttet hatte, entzündete sich plötzlich. Ein grelles Licht erhellte den Raum, und ein leiser Knall war zu hören.
„Steh auf, Barbara Neumann!" rief Dee. „Beseelt sie, ihr Geister!"
Wieder schrie er einige Zaubersprüche.
Für einen Augenblick war es mir, als würde ich eine rote Masse sehen, die aus dem Mund des Mädchens quoll. Ein Zittern ging durch den Leib der Toten. Ruckartig setzte sie sich auf.
„Hörst du mich, Barbara Neumann?" fragte Dee.
Die Tote stand langsam auf.
„Hörst du mich?" fragte Dee nochmals.
„Ich höre dich", sagte das Mädchen schwach.
„Wir wollen deinen Tod rächen, Barbara Neumann", sagte Dee laut. „Willst du uns dabei helfen?" Das Mädchen hob die Arme. Ihr Körper war noch immer in grelles Licht getaucht.
„Ich will", flüsterte sie.
„Du wurdest von dem Monster geraubt", stellte Dee fest. „Was geschah danach?"
„Das Monster brachte mich in ein leerstehendes Haus. Dort wurde ich von einem Maskierten erwartet, der mich fesselte. Als das Monster verschwunden war, warf er mich in eine Kutsche. Ich weiß nicht, wohin ich gebracht wurde. Es war ein kleiner Raum, in dem sich unzählige seltsam geformte Gegenstände befanden."
„Erzähle weiter!" befahl Dee.
„Einige Stunden blieb ich allein", fuhr die Tote fort. „Dann betrat ein Mann den Raum. Er kam langsam auf mich zu und musterte mich."
„Kanntest du diesen Mann, Barbara?"
„Ja. Es war Gebhard Stampfer von Vierort. Ich flehte ihn an, daß er mich freilassen sollte. Ich wolle ihm jeden Wunsch erfüllen, doch er lachte mich nur aus. Er sagte, daß er mit mir experimentieren würde. Er wollte meinen Körper verändern. Ich sollte die schönste Frau werden, die je auf Erden gesehen wurde. Er habe dem Kaiser versprochen, ein überirdisch schönes Mädchen zu erschaffen. Dann zwang er mich, einen bitter schmeckenden Saft zu trinken. Von da an kann ich mich an fast nichts mehr erinnern. Ich wurde zweimal wach. Mein Körper schmerzte."
„Und wer hat dich getötet?"
„Es war Vierort. Er war rasend vor Wut und schrie, daß ich nicht die Richtige sei. Dann packte er einen Dolch und
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