0836 - Vision der Vollendung
höher. Keeldom entschloß sich erst auf der sechsten Baumetage, vorerst nicht höher zu steigen.
Der Ast, auf dem sie sich befanden, war vier Meter breit. Kleinere Äste, die nach allen Seiten wuchsen, boten einen guten Halt. Nachdem Keeldom einige Meter zurückgelegt hatte, spürte er auf einmal nicht mehr hartes Holz unter den Füßen, sondern weichen Boden. Hier begann bereits die Humuszone. Der Boden war mit Moos überzogen. Dazwischen gab es Inseln von Gräsern und Farnen, die bald von höheren Schmarotzerpflanzen abgelöst wurden.
Die Flora wurde immer vielfältiger, je weiter sie sich vom Stamm entfernten. Lyscara hatte das Gefühl, durch das Unterholz eines Dschungels zu gehen.
Plötzlich kamen sie auf eine Lichtung. In der oberen Etage war ein Öffnung, durch die sie weit hinaus sehen konnten.
Als Lyscara den Kopf hob und hinaufblickte, schwindelte ihr, als sie des endlos scheinenden Schachtes aus Pflanzengrün und bunter Blütenpracht gewahr wurde. Sie mußte für einen Moment in ihr Kontinuum abwandern, um den Halt nicht zu verlieren.
„Das ist also das Reich der Vecculi", sagte Keeldom ergriffen. „Mir ist, als sei sie hier überall, als könne ich ihre Ausstrahlung aus jeder Pflanze, aus jedem Blatt und jeder Blüte spüren. Hast du nicht auch das Gefühl, als sei der Baum Indira Vecculi?"
„Das ist ein trügerisches Gefühl", erwiderte Lyscara. „Überlege lieber, wie du mit ihr in Verbindung treten willst.
Du hast doch nicht etwa vor, sie hier zu suchen? Öffne einfach dein Kontinuum, dann wirst du erfahren, ob sie sich herabläßt, zu dir Verbindung aufzunehmen."
Keeldom nickte unsicher. Er sah Lyscara an und tastete nach ihrer Hand. Als er sie zu fassen bekam, erwiderte sie ihren Druck.
„Ihr braucht mich nicht zu rufen, und es bringt auch nichts, wenn ihr eure Kontinua für mich öffnet", hörten sie da eine Stimme sagen. „Ihr befindet euch bereits in meinem Kontinuum. Ich habe euch vom Beginn eurer Expedition an beobachtet und gehofft, daß ihr den Weg zu mir finden werdet. Ihr seid beide, jeder auf eure Art, reif dafür, in mir einzugehen und mit mir der Vollendung zuzustreben."
Lyscara hatte plötzlich das Gefühl, in Nichts zu stürzen.
Doch nur einen Moment lang. Dann erkannte sie überwältigt, daß sie in einem mächtigen Kontinuum war, das aus vielen, vielen Noemata gebildet worden sein mußte. Doch die Grenzen waren längst verwischt, die einzelnen Noemata konnten kaum mehr voneinander getrennt werden.
Sie bildeten eine Einheit.
*
Indira Vecculi hatte sich in den Götterbaum zurückgezogen, weil sie hier die Vollkommenheit anstreben wollte.
Sie hatte alle ihre Schüler in sich aufgenommen, die hierher gekommen waren, und ihnen ihre neueste Lehre verkündet, die auf der Erkenntnis basierte, daß es auf den Körper überhaupt nicht ankam.
Nur der Geist war maßgeblich.
Der Körper - oder auch die vielen Partialkörper eines Mehrfach-Konzepts - war nur eine Krücke für den Geist, bis dieser stark genug war, um selbständig zu sein.
„Vor mir liegt nur noch ein Geheimnis", sagte Indira Vecculi, das Vielfach-Konzept. „Es ist ein Geheimnis, das eigentlich keines ist, denn wir alle kennen den Plan der Vollendung und ahnen, welche Bestimmung uns ES zugedacht hat."
Indira Vecculi genoß in diesem Augenblick noch den Zustand des körperlosen Seins. Sie dachte auf vielen Ebenen, und es waren Gedanken von wahrhaft kosmischen Ausmaßen.
Doch auf einmal entschwanden die Gedanken, das gigantische Kontinuum, das sie eben noch gewesen war, schrumpfte zusammen, bis sie sich wie in eine Zwangsjacke gesteckt fühlte.
Zuerst erklärte sie sich diese schlagartige Veränderung so, daß vermutlich irgendwelche Einflüsse von außen ihr diese schreckliche Halluzination verursachten. Sie wartete darauf, daß sich dieser Zustand wieder änderte.
Es konnte nur ein Traum sein ...
Doch nach und nach erkannte sie, daß dies hier die Realität war. Sie befand sich wieder in der bedrückenden Enge der Bewußtseinsballung von ES, und das Erlebnis, als Konzept auf EDEN II gelebt zu haben, war nur ein Traum gewesen. Und das machte alles nur noch schrecklicher als vorher, und der augenblickliche Zustand wurde nur noch unerträglicher für sie.
Zu nachhaltig war das Glücksgefühl, das ihr das Leben auf EDEN II beschert hatte.
*
Es liegt an dir, ob dieser Traum Wirklichkeit werden soll, Indira Vecculi. Es hängt davon ab, ob du dich für EDEN II oder den rebellischen
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