0845 - In der Gewalt der Shariden
des Monstrums funkelten böse. »Kelvo wird euch aussaugen!«
»Große Worte für eine Gefangene«, erwiderte Sid Amos kühl. »Wo finden wir deinen Meister?«
»Du erwartest allen Ernstes, dass ich ihn verrate? Er, der mir das Leben gab?« Die Kreatur gab ein Glucksen von sich, das wohl einem menschlichen Lachen entsprach.
»Es liegt ganz an dir.« Amos räusperte sich. »Geht deine Treue zu Kelvo bis in den Tod?«
»Wieso hast du die Menschen hierher geholt?«, fragte die Sharidin zurück.
Amos winkte lässig ab. »Falls du dir nicht darüber im Klaren bist: Zamorra hasst die Dämonen, und da ihn ein Sharide beinahe umgebracht hat, ist er auf euch im Besonderen schlecht zu sprechen. Er wird weniger zimperlich mit dir umgehen als ich. Er will wissen, wo er Kelvo findet, und er wird es aus dir herausholen, wenn es sein muss.«
Die Sharidin schwieg - alle ihre Augen richteten sich auf den Meister des Übersinnlichen - und kapitulierte.
Zuerst schien ihre Erzählung abzuschweifen, doch rasch würde klar, dass die Worte die Brisanz einer Atombombe enthielten. »Wenn ihr etwas über Kelvo und über mich wissen wollt, muss ich weit in der Vergangenheit beginnen. Er schuf uns, und wir dienten ihm Jahrhunderte lang. Stets stand einer von uns in direktem Kontakt mit ihm, doch dann…«
***
Aus der Historie der Shariden
Es war eine schreckliche Zeit.
Die schrecklichste Zeit seit Anbeginn der Schöpfung.
Sharita vermochte die Todesschreie ihrer Artgenossen, die unablässig in ihr widerhallten, nicht mehr zu zählen. Es verging kein Tag, an dem nicht mindestens einer von ihnen starb.
Seit der verfluchte Asmodis die Shariden zu Freiwild erklärt hatte, konnte keiner von ihnen mehr sicher sein. Es gab Dutzende, Hunderte von Dämonen, die sich einen Spaß daraus machten, ihnen aufzulauern, sie gefangen zu nehmen, zu quälen und zu vernichten.
So ging es seit Wochen und Monaten. Ihren angestammten Platz in der Hölle hatten die Shariden längst verlassen und sich aufgesplittet. Aus dem kollektiv zusammenlebenden Volk waren unruhig umherwandernde, einzelgängerische Nomaden geworden - oder Flüchtlinge.
»Kelvo«, schrie Sharita den Namen ihres Herren und Schöpfers, wie sie ihn schon Tausende Male geschrien hatte. Doch ihr Herr erhörte sie nicht. Er küm merte sich nicht um das Leid seiner Diener. Es war ihm gleichgültig, dass sie grundlos niedergemetzelt wurden.
Sharita erschauerte unter der Gewalt ihrer Gedanken. Sie schalt sich, fragte sich, welche Strafe angemessen war, um sich selbst dafür zu bestrafen. Sie hatte eine verabscheuungswürdige Tat begangen. Sie zweifelte an Kelvo!
»Und das zu recht«, murmelte sie.
Die frevlerischen Gedanken stürzten sie in einen Abgrund aus Verzweiflung und Selbsthass. Doch gleichzeitig nagten die Fragen in ihr. Kümmerte sich Kelvo tatsächlich nicht um seine Diener? Hatte er sein Volk verlassen?
Ein weiterer mentaler Todesschrei riss sie aus den Grübeleien. Sie erkannte seine Herkunft. Shagur. Nun hatte es also auch ihn erwischt. Sharita nahm es stumpfsinnig hin. Längst traf sie der Tod eines Artgenossen nicht mehr so hart wie früher. Die schiere Anzahl hatte sie abgestumpft.
Aber diesmal war etwas anders. Irgendetwas.
Sharita fragte sich verzweifelt, worum es sich dabei handeln könnte. Sie spürte instinktiv, dass da etwas war, etwas Wichtiges. Etwas, das sich von all den anderen Malen zuvor unterschied.
Shagur!
Sie hatte ihn vorhin noch gesehen! Er konnte nicht weit entfernt gestorben sein… Und das bedeutete, dass der Feind hier war, ganz in der Nähe.
Angst stieg in Sharita auf. Sie ließ die Augen über die Kopfsektion wandern, bis sie ungehinderten Rundumblick hatte.
Niemand war zu sehen.
Ganz vorsichtig schob sich die Sharidin näher an die Felswand. Sie durfte sich nicht hektisch bewegen. Es gab Kreaturen, die nur ein flüchtendes Opfer am Rand ihres Blickfeldes wahrnehmen konnten.
Sharita suchte hinter einem riesigen herabgestürzten Felsbrocken Deckung.
Sie bereitete sich auf einen Kampf vor. Wer auch immer ihr Gegner sein mochte, sie war bereit! Sie würde nicht ohne Gegenwehr sterben.
Selbst gegen einen der mächtigen Erzdämonen würde sie kämpfen, auch wenn es völlig aussichtslos war. Sogar Kelvo war im Kampf gegen Astardis unterlegen.
Dieser letzte Gedanke setzte sich in ihr fest.
Kelvo hatte seinen Gegner nicht besiegt. Er, der Schöpfer, der ewige Gebieter, hatte verloren. Seitdem war er verschollen. Vielleicht…
Sharita
Weitere Kostenlose Bücher