0849 - Schattengesicht
Hälfte des Buchs durchkämmte die Autorin ihre Vergangenheit. Sie fragte nach dem Sinn des Lebens, der sich allerdings auf sie persönlich bezog, und sie verglich den Sinn mit dem Begriff Herkunft. Sie wollte erfahren, woher sie kam, denn ihr Ursprung lag einfach im Dunkel der Vergangenheit begraben.
Sie kannte weder ihre Mutter noch ihren Vater. Diese Tatsache bedrückte sie immer stärker, wie ich beim Weiterblättern erlebte, und auch in mir stieg die Spannung, weil ich darauf wartete, eine Lösung präsentiert zu bekommen.
Es gab vorerst keine. Die Heldin fand nichts über ihre Vergangenheit heraus, obwohl sie - das merkte ich - so etwas wie einen Kontakt zu ihrem Vater gefunden hatte.
Das war die Spur zu Zacharias.
Die Heldin konnte ihn noch nicht erkennen. Er war für sie in einem Nebel verschwunden. Sie dachte immer nur an die Amme, die sie großgezogen hatte. Als Kind war sie bei dieser guten Frau abgegeben worden, aber auch die hatte ihr bei weiteren Nachfragen nicht helfen können. Das Grau blieb.
Die Heldin gab nicht auf.
Und auch ich blieb am Ball. Ich spürte, daß sich mein Herzschlag leicht beschleunigte hatte, denn der Text gab mir Auskunft darüber, daß sich die Heldin ihrem Ziel näherte.
Der Vater!
Sie mußte ihn finden, und sie fand ihn.
Wahrscheinlich in dem Kapitel, das mit der - Überschrift Vater tituliert worden war.
Ich las jetzt langsamer und genauer.
In einer Nacht hatte sich der Vater offenbart. Es war mondhell, sehr ruhig, der Geruch des Sommers zog über das Land, und die Heldin war hinausgegangen, um die Natur zu erleben. Da lernte sie den Herrn der Legenden kennen.
Detailliert beschrieb sie, wie sich die Felswand öffnete, wie sie wie im Traum in diese ansonsten versteckte Höhle eintrat und plötzlich ihrem Vater gegenüberstand.
Er wurde so beschrieben, wie ich Zacharias auch erlebt hatte. Nichts unterschied ihn. Er war einfach zeitlos. Er war eine Figur, eine Gestalt, mit der sich der, Leser zwar anfreunden konnte, mit der er aber nicht mitlitt.
Das kam auch bei der Heldin, die in der Geschichte Rosanna hieß, zum Ausdruck.
Sie stand vor ihm, sie starrte ihn an, sie beschrieb auch die rätselhaften Zwerge, und sie fragte ihren Vater nach dem Woher und nach dem Wohin.
Ich war natürlich gespannt auf die Antwort, aber Zacharias hatte sich selbst bei der eigenen Tochter zurückgehalten und sie nicht aufgeklärt. Besonders bei den Fragen nicht, die sich um die Mutter drehten. Das Findelkind Rosanna wurde abgewiesen, was die Erklärung nach der Mutter betraf.
Sie verließ die Höhle.
Nach dieser Nacht war nichts mehr wie sonst. Rosanna war in tiefe Depressionen gefallen. Sie wußte nicht mehr, wie sie ihr Leben einrichten sollte. Sie kehrte zurück in das Haus, und sie verschickte keine Einladungen mehr an ihre Freunde. Sie blieb allein und brachte es sogar fertig, die Möbel zu verkaufen. Nichts, aber auch gar nichts wollte sie mehr sehen, sie hatte einen Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen, sie lebte jetzt in ihrer Welt, und sie lebte völlig allein. Ob sich ihr Geist dabei verwirrte, wußte ich nicht, aber wie geschrieben stand, fand sie nur mehr die Kraft in den Arien weltberühmter Opern. Die Musik und die Stimmen sorgten dafür, daß sie seelisch nicht unterging, doch dies konnte sie nicht über Jahre hinweg durchstehen. Ihren Vater kannte sie, aber sie wußte nicht, wer ihre Mutter war, und dieses Rätsel blieb auch, da war ich mir sicher, obwohl ich das Ende des Buchs noch nicht gelesen hatte.
Die letzten Seiten nahm ich mir vor. Ich wußte es, aber ich las es trotzdem.
Irgendwann wurden die Leiden und Depressionen zu schlimm. Der Weg vom Haus zu den Klippen war nicht weit. Sie konnte ihn mit wenigen Schritten überwinden.
Das Buch endete mit Rosannas Sprung ins Meer.
Ich klappte es zu.
Wie gefesselt hockte ich am Schreibtisch, vom weichen Licht gebadet, in der Stille des Dachgeschosses, und ich hörte nur meinen eigenen Atem.
Ich spürte aber auch den Schauer auf meinem Rücken, denn das war schon hart gewesen, was ich da gelesen hatte. Auch deshalb, weil ich diese Geschichte kannte. Nur war im Buch keiner erschienen, der sie hätte retten sollen.
Ich atmete tief durch, wollte mich erheben, als ich das Kribbeln auf der Handfläche spürte, wenig später das Jucken, verbunden mit einem Brennen.
In einem Reflex hatte ich die Hand zur Faust geschlossen. Ich wollte diesen Fluch nicht sehen, aber es brachte ja nichts. Ich konnte die Augen nicht
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