0849 - Schattengesicht
startete und fuhr der sinkenden Sonne entgegen. Sie stand weit über dem Meer. Es sah so aus, als würde sie das Wasser allmählich auslöschen.
Das Haus kam bald in Sicht.
Auch aus der Entfernung gesehen machte es einen unbewohnten Eindruck. Es stand da wie ein zu Stein gewordener Schatten, ein dunkler Ort für ebenfalls dunkle Gestalten. Suko war überrascht, als ich an dem Haus vorbeifuhr. »He, willst du nicht anhalten?«
»Gleich.« Ich fuhr ein Stück weiter, drehte den BMW und stellte ihn ab.
»So, wir können.«
Der Wind schlug uns ins Gesicht, als wir die schützende Karosserie verlassen hatten. Wir befanden uns um einiges höher als das Niveau der Straße, und ich war derjenige, der Shao und Suko winkte, mir zu folgen. Diesmal ging ich die Strecke nicht allein, die ich einmal gerannt war, um Erica Saleri zu retten.
Wir blieben am Rand des Abgrunds stehen und schauten in die Tiefe. Das Schwinden des Tageslichts hatte sich beim Wasser bemerkbar gemacht, denn es war dunkler geworden. Die mächtigen Wellen schäumten heran. Sie wuchteten - schon durch Klippen gebrochen - gegen die Felswand und stiegen als steile Gischt in die Höhe, bevor sie wieder zusammenfielen. Das war schon bei normalem Seegang eine kleine Hölle. Wie stark mußte diese Kraft erst bei Sturm sein?
»Da ist sie hinabgesprungen?« rief Shao gegen das Tosen der Brandung an.
»Ja.«
»Das überlebt keiner.«
»Zumindest kein Mensch«, schränkte Suko ein.
Er hatte mir damit das Stichwort gegeben. »Genau das ist es, Suko. Es überlebt kein normaler Mensch, und ich frage mich mittlerweile, wie normal diese Erica Saleri gewesen ist.«
»Als sie in diesem gläsernen Sarg lag, hast du nicht mehr feststellen können, ob sie sich bewegte oder…«
»Nein, nein, gar nichts. Ich ging ja davon aus, daß sie tot war. Nur hat es mich gewundert, daß sie so wenig feucht oder naß aussah. Die Zwerge müssen sie in Windeseile trockengerieben haben oder was immer sie auch taten. Jedenfalls bin ich der Überzeugung, daß sie in diesem Fall eine nicht unwesentliche Rolle spielen.«
»Akzeptiert«, sagte Suko. Er schaute noch einmal in die Tiefe und dann gegen den Himmel, wo die Schatten der hereinbrechenden Dämmerung die Herrschaft übernahmen. »Wir sollten uns das Haus anschauen, solange es noch dunkel ist.«
»Das hatte ich gerade vorschlagen wollen.«
Nebeneinander gingen wir auf die breite Haustür zu. Es sah leer und düster aus. Die Fassade wirkte glatt. Es existierten kaum spitze Vorsprünge oder Kanten, denn alle Vorbauten waren im Laufe der Zeit durch Wind und Wetter glattgeschliffen worden.
Das Fensterglas war noch überall vorhanden. Niemand hatte die Scheiben zerstört, auch Wind, Regen und Hagel waren nicht stark genug gewesen. Das Glas war im Laufe der Jahre nachgedunkelt, so unterschied es sich kaum mehr von der Farbe des Mauerwerks.
Nichts änderte sich an diesem Haus, je näher wir herankamen. Nur in meinem Innern spürte ich die Veränderung. Es mußte wieder an dem berühmten Gefühl liegen, das in mir hochgestiegen war, denn dieses Haus schien sich doch verändert zu haben. Ich war nicht mehr hundertprozentig sicher, ob es tatsächlich leer stand.
Vor der Tür blieb ich stehen und wartete, was Shao und Suko wunderte. »Willst du nicht?« fragte mein Freund.
»Doch - schon, aber ich werde vorsichtig sein.«
»Du hältst es nicht für leer?«
»Nicht unbedingt.«
»Okay.« Suko wies auf die Tür. »Dann geh du vor.« Er wandte sich an Shao. »Schade«, sagte er.
»Was ist schade?«
»Daß du nicht deine Armbrust bei dir hast. Auf das Kostüm mit der Halbmaske hättest du verzichten können, aber…«
»Ich möchte daran nicht mehr erinnert werden.«
»Schon gut.«
»Und die Zwerge schaffen wir auch so«, erklärte Shao, die genau gewußt hatte, worauf Suko hinauswollte.
Ich zerrte die Tür auf.
Wieder hörte ich die schon stöhnend klingenden Geräusche, die sich in das Wimmern des Windes mischten, der um das Haus wehte und sich an den Vorsprüngen fing.
Wieder einmal schaute ich in die Halle hinter der Tür. Unter der Decke hing der Kronleuchter, als wäre er vergessen worden. Im Haus selbst war es totenstill. Weder von der Halle aus noch von oben hörten wir irgendwelche Geräusche. Als Suko und Shao eingetreten waren und die Tür geschlossen hatten, blieb auch das Jammern des Windes zurück.
»Hier hat es begonnen«, murmelte ich.
»Und Erica hat in diesem Haus allein gelebt?« fragte Shao, die das kaum
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