085 - Hexensabbat
Schmerz noch Freude. Manchmal kam ihr alles vor wie ein schrecklicher
Alptraum, dann wieder glaubte sie, langsam wahnsinnig zu werden. Dann wieder
überfiel sie tiefe Lethargie. Ziellos lief sie durch die Gassen, gedankenlos
blieb sie vor den Auslagen stehen. Sie ließ sich treiben wie ein Blatt im Wind.
Sie spazierte
durch den Hyde-Park und blieb bei einer Gruppe von Leuten in der
Speakers-Corner stehen, wo ein Farbiger gegen die Ungerechtigkeit in der Welt
predigte, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, daß
sinnlos Millionen für die Rüstung verpulvert würden und auf der anderen Seite
die Menschen verhungerten.
Sie hörte zu.
Mechanisch. Sie tat seit Tagen alles nur noch mechanisch.
Auf der
Toilette im Hyde-Park betrachtete sie sich im Spiegel. Sie erschrak nicht mal
mehr vor ihrem Aussehen. Sie war um Jahre gealtert oder bildete sie sich auch
das nur ein? Die Worte von Raymond Knight, ihrem Jugendfreund, kamen ihr in den
Sinn.
Er hatte ihr
Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht. Wohl ein Scherz.
Helen Garison suchte in ihrer Tasche nach dem Lippenstift. Er lag
im Seitentäschchen. Sie zog die Konturen nach und legte auch etwas Rouge auf
die Wangen. Als sie das Make-up in die Tasche zurücksteckte, fiel ihr die
Visitenkarte von Raymond Knight ins Auge. Sie steckte mit der schmalen Seite
nach oben im Seitenfach. Helen fiel ein, daß sie heute die Absicht gehabt
hatte, in London zum Juwelier zu gehen. Sie hatte zu Hause in ihrem
Schmuckkästchen einen Anhänger gefunden, den ihr Frank mal vor Jahren anläßlich
ihrer Verlobung geschenkt hatte; Es handelte sich dabei nur um ein vergoldetes,
stilisiertes Blatt, das man aufklappen konnte. Damals hatte Frank noch nicht
viel verdient, und »nur etwas Vergoldetes« kaufen können, wie er später oft
scherzhaft erwähnte.
In dem Blatt
war ein kleines Bild eingearbeitet, das sie, Helen und Frank, Kopf an Kopf
zeigte. Eine kleine Sentimentalität, eine Erinnerung an ärmere Zeiten.
Doch Helen
liebte dieses kleine Geschenk. Lange Zeit hatte sie es getragen wie einen
Talisman. Dann war eines Tages das einfache, billige Schlößchen kaputt
gegangen. Helen Garison legte den Anhänger in einen
Fächer ihrer Schmuckkassette - und vergaß ihn dort. Vor einigen Tagen war sie
durch Zufall wieder auf den Anhänger gestoßen, als sie in einer besinnlichen
Stunde mit Jonny-Boy zusammensaß und über Vater sprach. Sie hatte sich vorgenommen,
das kleine Schmuckstück wieder reparieren zu lassen. Helen Garison hielt den Atem an. Eine Hitzewelle peitschte heiß durch ihren Körper. Ihre
Finger zitterten. Sie stülpte die Tasche um. Der Anhänger war weg!
»Aber das
kann doch nicht möglich sein !« entfuhr es ihr
halblaut.
Sie
durchsuchte die ganze Tasche. Vergebens! Der Anhänger blieb verschwunden. Sie
wurde an die Situation von heute morgen erinnert, auf dem Bahnhof, als ein Teil
des Inhalts der Tasche auf den Boden gefallen war. Dort hatte sie den Anhänger
verloren! Eine andere Erklärung gab es nicht.
Richtige
Panikstimmung kam in ihr auf, und sekundenlang gab es nur einen Gedanken für
sie: zurück zur Victoriastation, nachschauen!
Aber dann
siegte die Vernunft. Es war sinnlos, dort jetzt nach so vielen Stunden suchen
zu wollen. Der Anhänger würde längst von jemand gefunden und mitgenommen worden
sein. Vielleicht war er von vielen Füßen auch bis zur Unkenntlichkeit
zerstampft. Dieser Gedanke gab ihr noch mal Auftrieb. Dann war das Geschenk und die Erinnerung an Frank zwar beschädigt, aber nicht verloren.
Raymond
Knight hatte alles aufgehoben. Er hatte es jedenfalls geglaubt. Sie konnte ihm
keinen Vorwurf machen. Er war wirklich sehr zuvorkommend und hilfsbereit
gewesen. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken sich langsam von Frank
lösten, wie die Erinnerung an ihn verblaßte. Mit einem Mal dachte sie
intensiver und öfter an Raymond Knight.
War das
normal? Konnte es sein, daß die Begegnung mit ihm etwas aufbrechen ließ, was in
all den Jahren verborgen unter einer Oberfläche gelegen hatte und nun zum
Vorschein kam?
Konnte es
nicht auch so sein, daß ihr Geistes- und Seelenzustand einen Punkt erreicht
hatte, der über den Schmerz und die Trauer hinausging, daß sie sich im
Unterbewußtsein wieder nach einem Menschen sehnte, bei dem sie sich glücklich
und geborgen fühlte?
Sie schloß
ihre Tasche und verließ die Toilette. Eine ältere Dame guckte sie groß an,
sagte etwas von »na endlich« und zog geräuschvoll die Tür
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