0851 - Der Kult der Shada-Gor
Tiefe. Eine Stichflamme schoss aus dem Höhleneingang, dann brach der Tunnel in sich zusammen und versperrte für alle Zeiten den Weg ins Innere.
Die Helikopter nahmen Kurs auf Lhasa. Der Kult von Shada-Gor war nur noch eine schlechte Erinnerung.
***
Hongkong
Einst war Cheung Chau ein berüchtigtes Piratennest gewesen. Heute waren es unzählige Touristen, die die kleine, autofreie Insel vor Hongkong aufsuchten, um sich von der Hektik der Großstadt zu erholen oder eins der beliebten Meeresfrüchte-Restaurants am Hafen zu besuchen.
Niemand achtete auf die durchtrainierte Chinesin, die im Strom der Touristen die Fähre verließ und sich unter das Volk mischte. Chin-Li trug ihre übliche »Uniform«: schwarze Hose, weißes Hemd, schwarzes Jackett und Sonnenbrille. Äußerlich hatten die Ereignisse in der Höhle von Shada-Gor kaum bleibende Spuren hinterlassen, doch es würde deutlich länger dauern, bis auch ihre inneren Wunden verheilt waren. Und genau das war der Grund ihrer Reise.
Die Recherche war nicht leicht gewesen. Meister Shiu hätte ihr leicht helfen können, doch es war besser, wenn das Drachen-Oberhaupt nichts von dieser sehr privaten Mission wusste. Außerdem wollte die chinesische Kriegerin der Bruderschaft keinen weiteren Gefallen schuldig sein.
Alles, was sie hatte, war eine möglicherweise längst veraltete Adresse. Und die Erinnerungen, die sich in Tibet tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Über zwanzig Jahre lang hatte Chin-Li sie verdrängt, jetzt würden sie sie nie mehr loslassen.
Chin-Li brauchte keine Karte. Trotz ihrer langen Abwesenheit kannte sie Hongkong immer noch wie ihre Westentasche. Automatisch checkte sie die Umgebung nach möglichen Verfolgern, doch sie entdeckte niemanden. Offenbar hatten die Neun Drachen noch nicht mitbekommen, dass sie wieder in der Stadt war. Gut.
Das Haus, das sie suchte, befand sich im hinteren Teil des Ortes, wo die Restaurants und Andenkengeschäfte weniger und die Gebäude ärmlicher wurden. Auf einem kleinen Platz spielten drei Kinder in abgerissenen Klamotten Fangen. Ihre fröhlichen Gesichter verrieten, dass sie noch nichts von den Schrecken gesehen hatten, die diese Welt für sie bereithielt. War ich einst auch so? So jung? So… unschuldig?
Chin-Li verdrängte den Gedanken. Sie hatte ihr Ziel erreicht: ein schlichtes zweistöckiges Gebäude, an dem die Farbe abblätterte. Seine Besitzer gehörten augenscheinlich nicht zu den Gewinnern des chinesischen Wirtschaftswunders, aber auch nicht zu den unzähligen Tagelöhnern, die der Raubtierkapitalismus Hongkongs verschlungen und wieder ausgespuckt hatte. Vor dem Haus standen die typischen Gerätschaften eines Fischers. Neben dem Eingang wachte die kleine Statue einer Göttin über die Bewohner. Es war Tin Hau. Wie passend, dachte Chin-Li und lächelte.
Aus reiner Gewohnheit umrundete die Kriegerin das Haus und hielt erneut nach Verfolgern Ausschau. Doch Chin-Li wusste, dass sie sich selbst betrog. Sie hatte keine Angst vor Spionen, sondern vor dem, was sie zu tun gekommen war. Der nächste Schritt würde ihr Leben ein für allemal verändern.
All ihre Instinkte schrien nach Flucht, und für einen Moment war Chin-Li gewillt, ihnen nachzugeben. Doch dann gab sie sich einen Ruck und trat über die Schwelle.
Die Erinnerung traf sie wie ein Stromschlag. Sie kannte diesen Ort nur zu gut. Mit einem Mal erinnerte sie sich an jede Einzelheit jener verlorenen Jahre. An den kleinen Vorraum, die schmale Stiege, die nach oben führte, und den Durchgang mit dem zur Seite geschobenen Vorhang, der in den Wohnbereich führte. Im Hauptraum saßen ein alter Mann mit wettergegerbter Haut und eine frühzeitig gealterte Frau an einem Tisch. Sie wuschen Muscheln. Erstaunt sahen sie auf.
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann unsicher. »Können wir etwas für Sie tun?«
Chin-Li nahm die Sonnenbrille ab. Die Tränen in ihren Augen ließen sie blinzeln. »Mein Name ist Chin-Li. Ich bin eure Tochter.«
ENDE
[1] Siehe Professor Zamorra Hardcover Nr. 6 »Dracchentöter«
[2] Siehe Professor Zamorra Nr. 813 »Der Schrecken vom Mekong-Delta«
[3] Siehe Professor Zamorra Nr. 798 »Die Rache der Tulis-Yon«
[4] Bön war bis zum 8. Jahrhundert die vorherrschende Religion in Tibet. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich der Bön-Glaube und der Buddhismus stark gegenseitig beeinflusst
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