0856 - Leas Hexenladen
es wäre ihr kaum möglich gewesen, zu sprechen. Die vier anderen Frauen sagten ebenfalls nichts, sie genossen die Situation, bis sich Lea wieder meldete.
»Wir haben dir lange genug Zeit gegeben, dich zu orientieren, meine Liebe. Dreh dich um!«
»Wie?«
»Du sollst dich umdrehen!« Der zischende Befehl war nicht zu überhören, und Maureen tat, wie ihr geheißen worden war. Sie drehte sich auf der Stelle um - und hatte das Gefühl, von einem Schlag getroffen zu werden. Ihre Augen weiteten sich, sie wollte am liebsten weglaufen, nur konnte sie nicht, denn ihre Beine waren plötzlich mit dem Erdboden befestigt worden.
Was sie da vor sich sah, war unglaublich.
Im leichten, über die Lichtung hinwegtreibenden Wind schaukelte eine Henkersschlinge…
***
Maureen schloß die Augen. Sie hatte es nicht einmal freiwillig getan. Es war so etwas wie ein Schutz vor dem Grauen. Sie konnte und wollte einfach nicht wahrhaben, was sie da sah, und sie dachte automatisch an ihren Bruder.
Auch er war aufgehängt worden.
Einfach so…
Brutal in die Höhe gezogen, nach dem ihm jemand die Schlinge um den Hals gelegt hatte.
Schreckliche Bilder schossen ihr durch den Kopf, und schon jetzt fiel ihr das Atmen schwer, weil sie den Eindruck hatte, die fachmännisch geknüpfte Schlinge wäre dabei, an der dünnen Haut ihres Halses entlangzustreifen.
Die Schlinge schaffte es, Maureen zu hypnotisieren. Diese leichten Bewegungen waren vergleichbar mit denen eines Pendels, das von der Hand eines Hypnotiseurs gehalten wurde. Sie wußte nicht mehr, wo sie sich befand, alles war so anders und schrecklich geworden. Sie schmolz weg, sie war drauf und dran, in die Erde einzusinken, sie trieb dahin, wie aus dem Leben gerissen.
Die Griffe der beiden Hände an ihren Armen spürte sie erst später. Dabei zuckte sie zusammen und hatte den Eindruck, von Eishänden umklammert zu werden.
Lea stand noch vor ihr. Sie hatte den Bogen geschlagen und genoß die Reaktion der Gefangenen.
»Weißt du, was das bedeutet, Maureen?«
»Nein.« Sie sprach dagegen, obwohl sie genau wußte, was es bedeutete.
Lea lächelte. Dabei nickte sie Celia zu. Sie ging zur Schlinge und hielt sie fest. So wie sie daneben stand, zum einen den Strick haltend, zum anderen provozierend, sah sie aus wie ein schauriges Gemälde aus einem Horror-Kabinett.
»Ich muß meine Rache vollenden. Ich muß mein damaliges Versprechen einlösen. Du hast zwar nicht direkt etwas damit zu tun gehabt, aber mitgefangen ist auch mitgehangen. Für dich werden wir unseren anderen Feind herbeilocken. Wir wollen an Sinclair heran, und wir werden vielen einen Gefallen tun, wenn wir auch ihn aus dem Weg räumen. Es ist eine wunderbare Zeit, um zu sterben. Die Sonne steht dicht vor dem Untergang. Es ist so still in der Welt geworden, und für dich, Maureen, wird es die Stille des Todes sein. Sie überschwemmt dich wie ein Meer. Sie ist das große Tuch, das dich in die Ewigkeit hineinführt, und du wirst das spüren, was auch dein Bruder gespürt hat.«
Maureen war einfach nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Sie wollte es nicht begreifen. Sie stand auf der Stelle, schüttelte den Kopf und kam sich vor wie in einem Traum, aus dem sie irgendwann erwachen würde. Erst als Nele und Anni sie anschoben und Maureen ein Bein vor das andere setzte, war ihr klar, daß sie keinen Traum erlebte und das Rascheln des Grases zu ihren Füßen echt war.
Ja, sie war es!
Sie war die Hauptperson!
Das Spiel galt ihr!
Diese Erkenntnis ließ sie zusammensacken, und sie wäre auch gefallen, aber Nele und Anni hielten sie fest.
Celia winkte mit der Schlinge.
Die Frau lächelte. Sie freute sich. Der Glanz in ihren Augen war nicht zu übersehen.
Warum schreie ich denn nicht? Warum brülle ich meine Angst nicht hinaus? fragte sich Maureen.
Hat mein Bruder nicht auch geschrien, oder ist er wie ein angeblicher Held gestorben, aufrecht und bei vollem Bewußtsein? Es war verrückt, welche Fragen ihr durch den Kopf schossen. Dinge, die sie persönlich nichts angingen. Für sie war einzig und allein die Schlinge wichtig, die von Celia festgehalten wurde.
Auch Lea stand jetzt dort.
Sie beobachtete alles lächelnd und mit dem kalten Blick in den Augen, der Maureen Simpson klarmachte, daß sie von dieser Person keine Gnade zu erwarten hatte.
»Erst dein Bruder, jetzt du. Danach werden wir Sinclair schnappen. Er wird herkommen, wir werden ihn fangen. Wir werden ihm den richtigen Empfang bereiten.«
Nele und Anni schoben
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