086 - Das Grab des Vampirs
als zuvor anzutreiben. Deshalb erwartete er den Schloßherrn bereits vorzufinden, als er den Hügel umrundet hatte, doch de Marcin kam nicht.
Verwundert, aber noch keineswegs beunruhigt, hielt Runge sein Pferd an und horchte. Er hoffte Pferdegetrappel zu hören, aber alles war still. Besorgt fragte er sich, ob dem Schloßherrn wohl etwas zugestoßen war. Sollte er vom Pferd gefallen sein? Kaum vorstellbar, fand Runge. De Marcin war ein geschulter und ausgezeichneter Reiter. Ein Mann wie er fiel nicht einfach vom Pferd. Es mußte etwas Unerwartetes geschehen sein.
Runge legte die Hände an den Mund und rief den Namen seines Begleiters, doch er erhielt keine Antwort. Da trieb er sein Pferd an und ritt von der anderen Seite um den Hügel. Das Gelände war auch hier gut zu übersehen, nur unter den Bäumen war es stockdunkel; falls sich dort jemand aufhielt, würde er nicht zu erkennen sein.
Als der Medizinstudent etwa hundert Meter weit geritten war, sah er einen einzelnen Baum. Etwa zwanzig Schritte weiter stand das Pferd de Marcins. Dieser aber saß nicht im Sattel.
Beunruhigt näherte Runge sich dem Baum. Er glaubte, eine menschliche Gestalt im Schatten des Baumes ausmachen zu können und war vorsichtig, denn er spürte die Gefahr; irgend etwas war nicht in Ordnung. Auch sein Pferd wurde nervös.
Es folgte seinen stummen Befehlen nicht mehr so willig wie vorher und schien vor dem Baum zurückzuschrecken.
Der Medizinstudent bedauerte, daß er keinerlei Waffen besaß. Er hatte noch nicht einmal ein Messer bei sich.
Als er bis auf etwa zehn Meter an den Baum herangekommen war, war er sicher, daß de Marcin unter den weit ausladenden Zweigen lag.
Er zügelte das Pferd, zumal er das Gefühl hatte, daß er es ohnehin nicht näher an den Baum herantreiben konnte. Mehrmals blickte er sich um, doch hinter ihm befand sich niemand.
„De Marcin?“ rief er. „Was ist passiert?“
Die Gestalt unter dem Baum bewegte sich nicht. Runge überlegte, ob er absteigen und zu Fuß zum Baum gehen sollte, doch er konnte das Pferd nirgendwo anbinden und fürchtete, daß es ihm weglaufen würde. Andererseits mußte er klären, was geschehen war. Deshalb drängte er das Tier weiter voran. Widerstrebend folgte es seinen Befehlen.
„De Marcin?“
Er regte sich nicht.
Nur noch fünf Meter trennten Runge von dem Mann im Schatten, als es plötzlich in den Ästen des Baumes raschelte. Eine dunkle, unförmige Gestalt sprang auf den Boden herab und rannte auf Runge zu. Als das Mondlicht sie traf, wieherte das Pferd und bäumte sich auf.
Runge hatte damit gerechnet, daß es in dieser Weise irgendwann reagieren könnte. Er klammerte sich an der Mähne des Tieres fest und wäre doch fast abgeworfen worden, als er die Zügel schießen ließ. Das Pferd warf sich herum. Für Bruchteile von Sekunden sah Runge sich einem entsetzlich entstellten Gesicht gegenüber. Zwei mächtige Reißzähne wuchsen aus dem Mund. Im Mondlicht glänzte das Blut tiefschwarz. Zwei Hände verkrallten sich in seinen Schultern, und das Vampirgebiß schnappte nach seinem Hals.
Runge stieß mit dem rechten Fuß nach dem Ungeheuer und fand dadurch den Halt, den er dringend benötigte, um nicht abgeworfen zu werden. Der Vampir stürzte zu Boden, während das Pferd mit dem Studenten in wildem Galopp davonraste. Als es über einen Graben sprang, geriet Runge noch einmal in Gefahr, herunterzufallen, doch er hatte auch dieses Mal Glück.
Mit einer kaum faßbaren Schnelligkeit folgte ihm das mißgestaltete Monster, aber das Pferd war ihm überlegen. Der Abstand wurde immer größer, bis der Blutsauger endlich aufgab.
Runge wußte jetzt, was geschehen war. Alphonse de Marcin war unter dem Baum hindurchgeritten und dabei von dem Ungeheuer angesprungen und vom Pferd gerissen worden. Danach hatte er keine Chance mehr gehabt.
Ira Bergmann kehrte in den Festsaal zurück, der sich auf unerklärliche Weise verändert hatte. Die Gäste tanzten, aber sie schienen nicht miteinander zu sprechen. Hatte vorher hier und dort Gelächter die Musik übertönt, so war es nun still geworden. Die Tanzenden bewegten sich in einer eigenartigen, schwerelos wirkenden Art, die sie kaum noch als Menschen erscheinen ließ.
Ira stand am Eingang zum Saal und suchte den Comte de Rochelles, aber sie fand ihn nicht. Sie entdeckte überhaupt keine bekannten Gesichter mehr, so als sei sie plötzlich in eine völlig fremde Abendgesellschaft geraten.
Die Worte der Zigeunerin fielen ihr wieder
Weitere Kostenlose Bücher