086 - Das Grab des Vampirs
auch wilde Kämpfe mit dem Dauphin austragen.“
Alphonse de Marcin seufzte.
„Ich glaube trotz der Vorgänge im Schloß nicht daran, daß es Vampire gibt“, sagte er. „Aber die Chronik berichtet, daß die beiden Vampire sich ständig ihre Beute abjagen wollen. Sie hoffen, den anderen dadurch entscheidend schwächen zu können, denn beide brauchen menschliches Blut, wenn sie ihre seltsame Existenz weiterführen wollen.“
„Ich habe auch diesen Abschnitt gelesen“, sagte Runge. „aber ich dachte, ich hätte ihn nicht verstanden. Mir erschien dieser Zweikampf der Vampire unlogisch.“
„Warum?“
„Beide Vampire versuchen, den anderen zu schwächen. Sie wollen den Gegner den Menschen in die Arme treiben. Die Menschen sind die einzigen, die einen Vampir töten können, indem sie ihm einen Holzpfahl durch das Herz stoßen – oder ihn ins Tageslicht zerren. Geschieht das, dann wird aus dem Untoten ein Toter.“
„Auch das ist richtig.“
„Mir scheint das unlogisch. Bedeutet denn der Tod für einen Vampir nicht zugleich auch Erlösung? Wer dem anderen zum Tod verhilft, würde ihm doch einen Gefallen tun.“
„Ganz sicherlich nicht. Wenn es so wäre, brauchte ein Vampir sich ja nur ins Sonnenlicht zu begeben. Er könnte dann sozusagen Selbstmord begehen. Ich habe aber noch niemals gehört, daß ein Vampir so etwas getan hat. Nein. Vielleicht fällt ihnen das Töten schwer, aber sie lieben dennoch ihr Vampirleben.“
„Dann haben wir es also mit zwei Vampiren zu tun“, sagte Runge und kehrte zum Ausgangspunkt des Gespräches zurück. „Ira hat wahrscheinlich den Dauphin an der Landstraße gesehen, der dem Mädchen die Kehle zerrissen hatte. Hier auf dem Schloß wurde aber Graf Marcel tätig.“
„Sie glauben doch nicht wirklich, daß…“
„Doch, ich glaube es. Ich wollte von Ihnen nur noch eine Bestätigung haben. Monsieur de Marcin, seien Sie ehrlich! Sie glauben doch selbst an die Existenz der Vampire. Sie versuchen zwar, sie zu leugnen, weil sie glauben, dadurch ihr Schloß als Exklusiv-Pension erhalten zu können, aber Sie irren sich. Es werden niemals Gäste kommen, solange sie hier in Gefahr sind. Erst wenn die beiden Vampire gepfählt worden sind, wird man hier wieder frei atmen können. Helfen Sie mir, Monsieur! Wir müssen die Vampire jagen und vor allem verhindern, daß Ira etwas geschieht.“
Alphonse de Marcin schien in wenigen Minuten um Jahre gealtert zu sein. Die beiden Männer blickten sich an. Der Schloßherr ahnte, was Runge dachte. Er war mitschuldig am Tode Junes. Er hatte sie und ihre Eltern auf das Schloß kommen lassen, obwohl er gewußt hatte, daß sie hier in Gefahr waren, und wenn Ira etwas geschah, dann trug er auch dafür die Verantwortung.
De Marcin erhob sich und streckte Runge eine Hand entgegen.
„Sie haben recht, mein junger Freund. Es war falsch, nichts zu tun und abzuwarten, daß sich das Problem von selbst löst. Wir müssen handeln. Zuallererst müssen wir Mademoiselle Ira finden.“
„Warum?“
„Das fragen Sie?“
„Ich bin auf Ihre Antwort gespannt. Ich weiß, warum wir sie finden müssen.“
„Dann befürchten Sie also auch, daß Comte de Rochelles mit dem Grafen Marcel identisch ist?“
Das Schloß, zu dem der Comte de Rochelles fuhr, lag mitten in einem Wald. Als der Wagen in den Schloßpark rollte, sah Ira zahlreiche Kutschen, die unter den Bäumen abgestellt worden waren. Vereinzelt standen düster gekleidete Fahrer daneben. Die Fenster des Schlosses waren erhellt. Musik, Stimmengewirr und verhaltenes Gelächter hallte durch die geöffneten Glastüren heraus.
Der Comte hielt direkt vor dem Portal. Ein fantasievoll gekleideter Diener öffnete und half Ira aus dem Wagen. Das Mädchen konnte das Gesicht des Lakaien nicht genau sehen, da es von einem exotisch aussehenden Hut beschattet wurde.
Als Ira den ersten Gästen begegnete, kam sie sich deplaciert vor. Mehrere Damen trugen Reifröcke und tief dekolletierte Kleider. Die Herren waren mit farbigen Röcken bekleidet, gingen in altmodischen Schnallenschuhen und trugen überwiegend gepuderte Perücken. Einige Gäste hatten sich maskiert, so daß Ira sich auf einem Kostümfest wähnte.
Der Gastgeber, ein hochgewachsener, hagerer Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Comte hatte, empfing sie ausgesprochen herzlich. Sie entschuldigte sich, daß sie nicht auch in einem Rokokokleid erschienen war.
„Das macht überhaupt nichts“, entgegnete er. „Wir erwarten noch mehrere
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