086 - Das Grab des Vampirs
Damen und Herren, die ebenfalls nichts davon wissen, daß ein Teil meiner Gäste meine Kleidersammlung geplündert hat.“
„Die Kleider stammen aus Ihrer Sammlung? Dann haben Sie vielleicht auch ein Kleid für mich?“
Ira atmete erleichtert auf, als er ihren Arm nahm, dem Comte de Rochelles lächelnd zuwinkte und sie in einen Nebenraum führte.
„Sie erhalten Ihre Begleiterin gleich zurück, Comte“, rief er.
Ira fand tatsächlich ein Kleid, das ihr so gut paßte, als sei es speziell für sie geschneidert. Für ihren Geschmack war es allerdings etwas zu tief ausgeschnitten, aber sie entdeckte kein zweites Kleid, das sie hätte tragen können. So kehrte Ira mit einem Dekollete zurück, das sofort die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregte. Die Blicke der Männer machten Ira verlegen. Sie war froh, daß der Comte de Rochelles zu ihr kam und sie zum kalten Büfett führte. Beim Anblick der hier angebotenen Delikatessen, vergaß sie die anderen Gäste, zumal ein älterer Herr sich an das Spinett gesetzt hatte und ein Menuett spielte. Darauf schien man nur gewartet zu haben. Fast alle Gäste begannen zu tanzen.
Ira ließ sich vom Comte einige Leckereien auf den Teller legen. Als er eine Languste aufbrach, griff sie nach einer Weinflasche und schenkte sich etwas Rotwein ein.
„Oh!“ rief sie. „Einen derartig roten Wein habe ich noch nie gesehen! Er sieht fast wie Blut aus.“
Der Graf fuhr herum und stieß sie mit dem Ellenbogen an. Das Glas fiel ihr aus den Händen. Er konnte es noch auffangen, verschüttete aber den Wein.
„Dazu würde ich Ihnen nicht raten“, sagte er, nachdem er sich entschuldigt hatte.
Er machte einen ausgesprochen erschrockenen Eindruck und war, wie Ira glaubte, nahezu untröstlich über seine Ungeschicklichkeit. „Probieren Sie lieber den Weißwein! Der Rotwein ist viel zu stark. Und Sie wollen doch nicht betrunken werden?“
„Natürlich nicht“, entgegnete sie.
Er reichte ihr ein Glas Weißwein. Sie bedauerte, daß sie sich vom Rotwein hatte abbringen lassen. Ira hätte ihn gar zu gern probiert. Sie nahm sich vor, später einen Schluck davon zu trinken, denn sie bemerkte, daß an fast allen Tischen gerade dieser Rotwein getrunken wurde.
„Darf ich Sie zum Tanz bitten?“ fragte der Gastgeber.
„Ich wollte eigentlich nicht tanzen“, sagte Ira unsicher.
„Tanzen Sie ruhig!“ riet ihr der Comte de Rochelles freundlich.
Ihre Augen weiteten sich. Ihr fiel auf, daß er verändert aussah. Seine Haut spannte sich über den weiter als sonst herausragenden Wangenknochen, und seine Augen schienen tief in den Höhlen zu versinken.
„Kommen Sie, Ira!“ bat der Gastgeber.
Er legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie mit sanfter Gewalt auf die Tanzfläche.
„Ich kenne diesen Tanz nicht.“
„Er ist ganz leicht. Ich werde Sie unterweisen.“
Mehr noch als zuvor geriet sie in den Mittelpunkt der Gesellschaft. Die anderen Damen und Herren schienen ihre Nähe zu suchen. Ihr fiel auf, daß sie alle um sie herumtanzten, während sie sich zuvor gleichmäßig über die ganze Tanzfläche verteilt hatten.
Die Hand des Gastgebers lag knochig und – wie ihr schien – eisigkalt auf ihrer Schulter. Ira kam die ganze Szenerie unwirklich vor. Sie fühlte sich nicht wohl in dieser Gesellschaft und wünschte, sie hätte den Comte nicht begleitet. Ihr wurde bewußt, daß sie wie unter einem Zwang gehandelt hatte. Ihre Blicke suchten die Stelle am kalten Büfett, wo sie den Wein verschüttet hatte. Die Lakaien hatten den Fußboden inzwischen aufgewischt, aber das weiße Tischtuch hatte einige Flecken abbekommen.
Blut, dachte sie schaudernd und ihr Bewußtsein trübte sich. Sie konnte nicht mehr klar denken. Der Wein hatte eine unerwartet starke Wirkung.
Der Gastgeber ließ seine Hand tastend über ihren Nacken gleiten. Sie hätte sie am liebsten abgeschüttelt. Ira hatte das Gefühl, er begutachtete sie wie ein Beutestück, das ihm zugeführt worden war. Sie hätte ihn zurückgestoßen, wenn sie nur gekonnt hätte.
Leise sagte er ihr, wie sie die Füße setzen müßte.
„Links – rechts – vor und zurück, Links…“
Seine Worte waren halblaute Kommandos, die einschläfernd, fast hypnotisch auf sie wirkten. Sie konnte sich ihnen nicht entziehen und bewegte sich wie ein Roboter, während ihr zugleich das Kleid vom Körper zu gleiten schien; sie kam sich nackt vor. Hilfesuchend blickte sie sich nach dem Comte um, aber sie fand ihn nicht.
„Wo ist der Comte?“
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