0860 - Die Blutbank von Venedig
In der letzen Zeit sind die Barrieren schwächer geworden. Die Brut des Alten Umberto nimmt an Zahl und Kraft zu. Ein Ball der Vampire ist noch nötig, und sie sind so erstarkt, dass ganz Venedig ihnen zum Opfer fällt. Dann Gnade uns Gott.«
»Hier verkehren Jahr für Jahr Millionen Touristen«, sagte Nicole. »Sie ahnen nichts von dem Schrecken und den Geheimnissen der Lagunenstadt. Ist es schon öfter vorgekommen, dass welche von ihnen Opfer der Vampire wurden?«
»Manchmal.«
»Und diese Fälle sind unter den Teppich gekehrt worden?«, erkundigte sich Nicole.
»Immer wieder verschwinden Menschen spurlos, oder es gibt tödliche Unglücksfälle«, erwiderte der Commissario. »Die Wahrheit konnten wir nicht preisgeben.«
»Weil es Venedigs Ruf zerstört und die Fremdenverkehrsindustrie ruiniert hätte«, behauptete die Nicole heftig.
»Weil niemand die Wahrheit geglaubt hätte«, hielt Gabelotti dagegen. »Wer glaubt heutzutage denn schon an Vampire? Die Mehrzahl der Menschen halten sie für ein Märchen.«
»Wir hier im Zimmer nicht«, stellte Nicole fest. »Der Alte Umberto - wie heißt er mit Nachnamen?«
»Scalba.«
»Was ist er früher gewesen? Oder war er nie ein Mensch?«
»Doch.« Inspektor Montefiori setzte sich. »Er war im 16. Jahrhundert Doge von Venedig. Umberto Scalba entstammte einem alteingesessenen venezianischen Geschlecht. Es heißt jedoch, seine Mutter sei eine Hexe aus den Ligurischen Bergen gewesen, eine Genueserin, woher noch nie Gutes für Venedig kam. Umberto Scalba war schon sehr alt und sehr böse…«
Gabelotti unterbrach den Inspektor: »Ich werde die Geschichte erzählen, die Geschichte der Scalba-Vampire und jene der Bruderschaft, deren Mitglieder sich ebenfalls Scalbas nennen. Der Wächter von Scalba , Pietio Cavalli, ihr Hauptmann, wollte Sie vertreiben, Professore Zamorra und Signorina Duval. Es ist ihm und seinen Helfern nicht gelungen.« Gabelotti legte eine kurze Pause ein. Plötzlich wirkte er nicht mehr so plump und unbeholfen. »Ich sehe aus wie ein fetter Tölpel, aber ich bin keiner. Weil ich dick bin, bewege ich mich ungern, und weil ich mich ungern bewege, gebrauche ich meinen Verstand und überlege scharf, damit ich mich nicht unnütz bewegen muss. Wenn es darauf ankommt, kann ich sehr schnell sein, auch körperlich.«
Zamorra glaubte ihm das. Er wusste, wenn jemand die Wahrheit sprach.
»Klären sie uns endlich auf, Commissario.«
»Sie können mich Alfredo nennen. Möchten Sie ein Glas Wein?« Als Zamorra und Nicole zustimmten, holte der Inspektor eine Flasche und Gläser aus dem Wand- und dem Kühlschrank. »Wie ist Ihr Vorname, Professore?«
»Den habe ich selbst vergessen«, antwortete Zamorra halb im Scherz. »Wollen wir uns noch länger mit Vorreden aufhalten? - Sie haben uns lange genug auf die Folter gespannt.«
Gabelotti fing an zu erzählen. Er holte weit aus.
***
Es hieß später, Umberto Scalba hätte nie Doge werden sollen. Der Sohn der Ligurischen Hexe, die eine venezianische Nobila geworden war, entstammte einfem alten Adelsgeschlecht, das jedoch verarmt und heruntergekommen war. Die Hexenkünste von La Genovesa, der Genoveserin, hatten die Scalbas wieder emporgebracht.
Bald gehörten sie zum Rat der Zehn, der regierende Ausschuss von Venedig. Der Doge war das gewählte Stadtoberhaupt und der Vorsitzende des Rates des Zehn. Er besaß eine ungeheure Macht.
Allerdings war auch das Intrigenspiel in den Seerepubliken Vendig, Genua und Padua ungeheuerlich.
Gift und Meuchelmord spielten eine große Rolle, und Zeitgenossen hatten gesagt, eine Schlangengrube wäre ein Erholungsort gegen den Thron des Herrschers der Seerepublik. Venedig war die mächtigste unter den Seestädten, die um die Vorherrschaft wetteiferten.
La Genovesa alterte nicht und blieb strahlend schön. Als ihr Sohn schon ein alter Mann war, hielten Uneingeweihte sie für seine Enkeltochter. Es wurde gemunkelt, sie würde Blut trinken und darin baden, um ihre Schönheit und Jugend zu erhalten.
Umberto Scalba war schon uralt, als er 1521 endlich zum Dogen von Venedig gewählt wurde und damit die höchste Macht in der Seerepublik errang. Er zählte zu jenen wenigen bis ins hohe Alter hinein vitalen, erfolgreichen Männern, deren Leistungsfähigkeit sich noch zu steigern schien.
Und deren auch gegen sich selbst grausamer Wille und Ehrgeiz sie voranpeitschte. 85 war er, als er den Dogenthron im Prokuratorenpalast erstieg. Hinter ihm stand seine Mutter, die man dem Aussehen nach
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