0860 - Die Blutbank von Venedig
die Stadt vor den Scalbas retten. Das gab ihm die Kraft.
Er sprang hoch, viel schneller, als es der Wärter erwartet hatte, der meinte, dass er sich kaum auf den Beinen halten könnte. Der Mönch schlug die Hellebarde zur Seite. Seine linke Hand schoss vor wie eine Geierklaue und packte mit Stahlgriff die Gurgel des Wärters.
Der Mann röchelte, die Augen quollen ihm vor. Er bekam keine Luft mehr, die Blutzufuhr zum Gehirn wurde ihm abgeschnürt. Er war zu keiner Gegenwehr fähig, wie ein Ochse, dem ein magerer Wolf die Kehle durchbiss.
Amalfi zog ihm den Dolch aus der Scheide am Wehrgehenk und stach damit zu. Er stieß den Toten die Treppe hinunter. Er schaute auf seine blutige Hand.
»Christus möge mir verzeihen, hier stehe ich, ich kann nicht anders.«
Er lief weiter, ohne Schwäche jetzt, von einer Kraft erfüllt, die er aus Quellen tief in seinem Innern schöpfte. Fanatismus, der glühende Wunsch, seine Aufgabe zu erfüllen oder was auch immer gab ihm die Kraft. Es war, als stände er unter Drogen, die jede Schwäche und jeden Wunsch nach Schonung der eigenen Person ausschalteten.
Irgendwann würde er niedersinken, wenn die letzten Reserven verbraucht und die letzte innere Substanz aufgezehrt war. Bis dahin stoppte ihn nur der Tod. Vielleicht würde er dann an der Überanstrengung sterben.
Der Mönch lief durch die verlassenen Prunksäle, deren Bewohner die Pest vertrieben hatte. Für die Schätze, die sich seinem Auge boten, hatte er keinen Blick.
Endlich fand er in einem Saal, was er suchte: neben dem Sitz des Dogen in einem Beratungssaal ausgestellt das Schwert des Enrico Dandolo. Er nahm die reich verzierte Waffe aus der Vitrine. Schweiß perlte ihm auf der Stirn. Sein Herz hämmerte gegen die Ripppen, aber er spürte es nicht.
Amalfi lief aus dem Dogenpalast und durch die Lagunenstadt. Er sprach zu den Venezianern, er wollte sich zeigen. Wegen der Pest wagten sich die Wächter des Dogen nicht hervor, um ihn daran zu hindern. Das Volk sah ihn, man erkannte ihn, der das funkelnde, mit Gold und Edelsteinen verzierte Schwert Dandolos schwang.
»Das ist doch der Mönch Benedetto, der gegen den Dogen und seine Hexenmutter predigte und der von den Schergen der Kanzel in der Dreifaltigkeitskirche gerissen wurde!«
»Der Mönch lebt!«, riefen andere Stimmen. »Es hieß doch, er wäre zu Tode gefoltert oder geköpft worden.«
»Benedetto, Benedetto, Fra Benedetto, segne uns, rette uns, rette Venedig vor der Pest und der Tyrannei des Dogen!«
»Seht, er hat Dandolos Schwert! Ein Wunder ist geschehen! Fra Benedetto lebt und ist frei!«
Eine immer größer werdende Menschenmenge folgte dem Mönch, der zum Markusplatz eilte. Alle Bevölkerungsschichten waren dabei, vornehme, schöne Frauen in reich verzierten Gewändern und mit glitzerndem Schmuck, Händler, Arbeiter, Arme, Mütter mit Kindern am oder auf dem Arm.
Nur akut Pestkranke waren nicht dabei, denn bei wem die schwarzen Beulen zu sehen waren, der durfte sich nicht mehr unter die scheinbar noch Gesunden wagen. Freilich trug mancher derjenigen, die nun den Mönch umringten, schon den Keim des Todes in sich.
Brütende Hitze lag über Venedig. Pestdämpfe und üble Gerüche stiegen aus den Kanälen. Das Wasser schwappte gegen die Mauern und Kais. Ratten huschten quiekend umher und fürchteten sich kaum noch vor den Menschen. Fette Biester waren es, die sich vorwagten, weil sie die Angst der Menschen witterten.
Normalerweise mieden die Menschen, die in der Stadt geblieben waren, Menschenansammlungen. Jetzt ballten sie sich zusammen, drängten sich sogar auf dem Markusplatz, als Benedetto zur Markusbasilika eilte.
Er war ihr Hoffnungsträger, der Mann mit dem goldenen Schwert der Dandolos, das zuletzt deren größter Spross trug.
Fra Benedetto stand auf der Kirchentreppe, vor sich die Menschenmenge. Das goldene Schwert funkelte im Licht der Mittagssonne, als er es schwang.
»Läutet die Glocken!«, rief Fra Benedetto. »Bürger-Venedigs, ich bin eingekerkert gewesen, wurde gefoltert.«
Er streifte die Kuttenärmel zurück und zeigte Wunden und Narben.
»Eigentlich sollte ich tot sein. Doch meine Gebete wurden erhört. Wie durch ein Wunder habe ich überlebt in den glutheißen Bleikammern. Letzte Nacht ist mir der Heilige Markus im Traum erschienen, der Schutzpatron dieser Stadt, und er befahl mir, das Schwert Dandolos zu nehmen, mit seinen Reliquien zu weihen und damit die Dämonenbrut zu vertreiben. Heute nun konnte ich das Schloss meines
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