0860 - Die Blutbank von Venedig
ab.
»Ich kann sie nicht verhaften«, sagte er. »Wir müssen sie gehen lassen. Natürlich werden sie einiges an Strafe zu zahlen haben.«
Zamorra glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
»Sie lassen bewaffnete Terroristen laufen, die am helllichten Tag in den Kanälen Touristen auflauern? Die mit Maschinenpistolen ausgerüstet sind?«
»Normalerweise benutzt die Bruderschaft andere Mittel«, erwiderte Gabelotti. »Das sollten sie nicht, da haben Sie recht, Professore. Aber ich kann schlecht etwas gegen sie unternehmen oder sie hinter Gitter bringen, da sie die letzte, einzige Chance sind, dass nicht ganz Venedig den Vampiren anheimfällt. Dafür muss man ihnen schon manches durchgehen lassen.«
»Das ist eine schöne Einstellung«, beschwerte sich Nicole. »Haben die Wächter der Scalbas Sonderrechte? Gilt das Gesetz nicht für sie?«
Gabelotti zuckte die Achseln. »Die Bruderschaft passt seit über 450 Jahren auf, dass Venedig nicht den Vampiren zum Opfer fällt. Ja, dafür haben sie Sonderrechte. Man muss das eine vom anderen unterscheiden. Der Fortbestand von Venedig ist wichtiger als alles andere.«
»Alles?«, fragte Zamorra. »Auch Mord?«
»Mord nicht«, erwiderte der Commissario gedehnt. »Jedenfalls nicht bei mir. Die Scalbas sind einen Geheimbund, hoch angesehen bei den Einheimischen, mit Verbindungen und Protektion bis in die höchsten Stellen. Weil die alteingesessenen Venezianer wissen, was von ihnen abhängt, decken sie sie, halten ihre Existenz geheim - wie die der Vampire, des uralten Fluchs von Venedig - und stehen den Scalbas bei, wo immer sie können.«
»Ich finde, Sie sind uns eine genaue Erklärung schuldig«, verlangte Zamorra.
Gabelotti kaute an seiner Zigarre. Seine in Fett eingebetteten Augen waren wie enge Schlitze. »Sollen wir es Ihnen sagen?«, fragte er seinen Untergebenen.
»Wir müssen wohl. Ich habe nie viel von dem Hexenjäger D'Annocchio gehalten«, erwiderte dieser, ein schlanker junger Mann. Er stellte sich vor: Luigi Montefiori, Inspektor. »Cavalli wollte ihn unbedingt haben. Das Geheime Gremium bei der Stadtverwaltung schlug ihn vor. Der Bürgermeister beorderte ihn her.«
Die Geschichte wurde immer bunter. Lokalpolitiker waren also in diese Aktionen verwickelt. Andererseits kein Wunder, bei der Stadtverwaltung, die großteils aus Mitgliedern alteingesessener Familien bestand, konnte man nicht ahnungslos sein.
Ein Gespinst von Seilschaften und Interessenverbänden durchzog die Lagunenstadt, ein Filz in besonderem Sinn. Zamorra waren solche Vernetzungen nicht sympathisch, er musste jedoch damit leben.
»Was ist mit Neubürgern Venedigs?«, erkundigte sich Nicole. »Weiht man sie ein?«
»Manchmal, wenn es nicht anders geht«, antwortete Gabelotti. »Meist warten wir aber erst ein paar Generationen, bis sie sich eingebürgert haben.«
In welchen Zeiträumen denken diese Menschen ?, fragte sich Zamorra. In Venedig gingen die Uhren wohl anders.
»Berichten Sie«, bat er. »Erzählen Sie uns, was es mit dem Alten Umberto und den Wächtern von Scalba genau auf sich hat.«
Gabelotti zeigte ihm den schweren Siegelring an seinem Finger. Er wies ein verschlungenes Wappen auf. Wenn man sehr genau hinschaute und scharfe Augen oder eine Lupe hatte, konnte man einen Vampirpflock und einen Hammer, die sich kreuzten, auf einem Schild erkennen.
Darunter stand winzig klein eine Inschrift.
»Gegen das Böse heißt das auf Lateinisch«, sagte Gabelotti. »Auch ich bin ein Scalba. Für meine Stadt würde ich alles tun. Die höchste Pflicht der Scalbas ist es, Venedig zu retten.«
»Vor den Vampiren?«
»Ja, und vor jeder Gefahr. Hauptsächlich aber vor dem Alten Umberto, der einmal Doge von Venedig war, und seinen Blutsaugern. Auch Inspektor Montefiori ist ein Scalba. - Sehen Sie das.«
Der dicke Comissario drehte an dem Ring herum. Ein dünner schwarzer Stachel trat hervor.
»Das ist ein Giftstachel«, erklärte der Commissario. »Jedes Mitglied der Bruderschaft, es gibt auch Frauen darunter, trägt einen solchen Ring. Wir haben geschworen, uns selbst damit zu töten, sollten wir Opfer der Vampire werden und keinen anderen Ausweg mehr sehen. Dann bringen wir uns eher um, als uns von ihnen aussaugen zu lassen und welche der ihren zu werden.«
»Wie viele Vampire gibt es?«, erkundigte sich Zamorra.
»Das weiß niemand genau. Manches ist hier geheimnisvoll und unverständlich. Es gibt Mächte, die die Vampire hindern, Barrieren, die sie zurückhalten. Und doch wieder nicht.
Weitere Kostenlose Bücher