0865 - Aus Tinte geboren
zusammenleben. Als Prinzessin, die von dem Drachen bewacht wird.«
»So, wie er ihn beschreibt, ist der Drache richtig süß«, sagte ein anderes Mädchen. »Und diese Katze…«
»Ihr habt doch zu Hause davon erzählt«, sagte Zamorra. »Was sagen eure Eltern dazu?«
»Die finden das auch gut«, sagte der Junge, der zuerst gesprochen hatte. Er sah sich nach den anderen um. Die meisten nickten.
»Nur das mit den halb nackten Frauen finden sie nicht gut«, sagte die Drachenprinzessin. »Wir übrigens auch nicht.«
»Aber sicher doch!«, wiedersprach der Junge. »Und die Eltern - na ja, sie sagen, es sind eben Fantasien.«
Soviel zu den protestierenden Eltern, die Frau Oberstudienrat angeblich die Hölle heiß machen, dachte Zamorra.
»Die früheren Leben?«, fragte er.
»Na, da spinnt er wohl ein bisschen. Aber das ist doch egal. Sind spannende Geschichten, die er sich da ausdenkt.«
»Ich danke euch«, sagte Zamorra. »Ihr habt mir ein Stückchen weitergeholfen. Ihr könnt jetzt weitermachen. Ich wünsche euch gute Zensuren.«
Er ging zur Tür und nickte dem Lehrer zu. »Danke auch für Ihre Unterstützung.«
Dann war er draußen.
Patricia stand am Korridorfenster und sah hinaus.
Zamorra lächelte.
»Wie es aussieht, hat Frau Zirkusdirektor sehr schlechte Karten. Und jetzt wollen wir uns mal um Rhett kümmern.«
***
»Kleckse«, sagte Rhett und lehnte sich zurück. »Ich sehe Kleckse.«
Dr. Bonmirelle verzog das Gesicht. »Aber du musst doch etwas erkennen, mein Junge.«
»Erstens, bin ich nicht Ihr Junge«, sagte Rhett. »Zweitens sollten Sie mich mit dem gebührenden Respekt anreden, immerhin bin ich Angehöriger des britischen Hochadels und somit Sir zu nennen. Drittens sehe ich Kleckse.«
Vor ihm lagen Löschblätter, auf die jemand Tintentropfen hatte zerlaufen lassen; die Blätter waren gefaltet worden und daraus die Bilder für den Rorschach-Test entstanden. Es handelte sich um Bildassoziationen. Benannt war der Test nach seinem Erfinder Hermann Rorschach, der von 1884 bis 1922 lebte. Davor hatte der Psychologe es mit Zener-Karten probiert, zu welchen Rhett einen ähnlichen Kommentar von sich gegeben hatte, was Dr. Bonmirelle gar nicht lustig fand. Begonnen hatten die Tests mit einem Bogen Papier, auf dem Rhett eine Selbsteinschätzung vornehmen sollte, speziell was seine seltsamen Andeutungen betraf, die er seinen Mitschülern gegenüber gemacht hatte. Statt sich ausführlich in den Einzelheiten zu ergehen, hatte Rhett nur knapp geschrieben: Ich bin, was ich bin - mach was dran.
»Aber du musst doch etwas erkennen!«, drängte Dr. Bonmirelle.
»Das Einzige, was ich muss«, sagte Rhett, »ist, in 252 Jahren zu sterben.«
»Das heißt, du müsstest dann 266 Jahre alt sein«, rechnete Dr. Bonmirelle nach. »Das ist völlig unmöglich.«
»Diese Tests sind völlig unmöglich«, konterte Rhett. »Und damit ist jetzt Schluss.«
Er erhob sich und verließ einfach den Raum.
Der Psychologe sah entgeistert hinter ihm her. Dann sprang er auf und folgte ihm. »Warte doch - wir sind noch gar nicht fertig!«
»Ich schon«, sagte Rhett und prallte auf dem Korridor fast gegen Professor Zamorra.
***
»Hups!«, entfuhr es Zamorra, der den stürmischen jungen Lord schnappte und festhielt. »Wohin des Weges gar so hurtig?«
»Weg von dem da.« Der Junge deutete mit dem Daumen über die Schulter auf Dr. Bonmirelle. »Mann, redest du plötzlich geschraubt, Zamorra! Fast so wie William.«
»Er befleißigt sich nur einer, äh, poetischen Sprechweise«, schmunzelte Patricia.
Dr. Bonmirelle hatte sie jetzt auch erreicht. »Rhett«, sagte er vorwurfsvoll. »Du kannst doch nicht einfach so davonlaufen!«
»Was glauben Sie Eierkopf, was ich alles kann!«
Der Psychologe schluckte die Beleidigung. »Du kommst jetzt zurück, damit wir die Tests…«
Zamorra unterbrach ihn. »Das bestimmen nicht Sie, Monsieur.«
»Wer sind Sie denn?«, fauchte Dr. Bonmirelle.
»Spielt keine Rolle«, sagte Lady Patricia entschieden. »Ich bin Rhetts Mutter, und ich nehme ihn jetzt mit nach Hause. Ihren Test können Sie vergessen!«
»Ich bin vom Schulamt beauftragt!«
»Interessiert uns nicht«, sagte Zamorra. »Rhett ist britischer Staatsbürger und untersteht nicht dem französischen Gesetz. Au revoir, Monsieur.«
Patricia und Rhett setzten sich in Bewegung. Dr. Bonmirelle wollte noch etwas sagen. »Ruhe!«, donnerte Zamorra so laut, dass es durch die ganze Etage hallte. Dann ließ er den Psychologen einfach stehen und
Weitere Kostenlose Bücher