0867 - Die Pesthexe von Wien
dort das Behältnis öffnet.«
Kaiser Leopold erschrak zutiefst. »Welchen Kelch denn?« Er erinnerte sich sofort an das teuflische Gefäß, das er vor mehr als zwanzig Jahren hinter dem Tabernakel der Hofburg-Kapelle deponiert hatte. Fünf Jahre alt war sein Junge damals gewesen. Er konnte die verderbliche Wirkung des Kelchs deswegen noch nicht mitbekommen haben. Woher wusste er also davon? Hatte Abraham a Sancta Clara geplaudert? Hetzte er Joseph auf? In der Hoffnung vielleicht, den Kelch noch einmal wiederzuerlangen? Der Prediger schien wieder völlig normal, seit er der dämonischen Waffe entwöhnt worden war, aber Leopold traute ihm trotzdem nicht mehr so richtig über den Weg.
Außer dem Kaiser wusste niemand, wo der Pestkelch versteckt war. Trotzdem erschien ihm das Versteck hinter dem Tabernakel plötzlich nicht mehr sicher. Wenn Joseph den Kelch fand, bestand die Möglichkeit, dass er Bayern mit einer neuerlichen Katastrophe überzog. Dies durfte nicht geschehen. Niemals. Auch wenn Leopold glaubte, dass Joseph in dieser Sache vor der allerletzten Konsequenz zurückschrecken würde, besprach er sich doch mit seinem treuen Freund Prinz Eugen von Savoyen und dem Kapuzinerabt Bruder Elegius von Bullenberg. Er rang beiden das Versprechen ab, dass sie nach seinem Ableben heimlich den Kelch bargen und ihm in den Sarkophag legten. Leopold war wild entschlossen, die schreckliche Waffe noch im Tod zu hüten.
Leopold I. starb nur ein dreiviertel Jahr später, am 5. Mai Anno Domini 1705. Nachdem der tote Kaiser seziert und einbalsamiert war und seine Eingeweide samt Gehirn und Augen in einer kupfernen Urne in die Herzogsgruft zu St. Stephan überführt war, nachdem sein Herz in einem silbernen Becher in der »Herzigruft« von St. Augustin ruhte, wurde der Kaiser in der Kapuzinergruft in einem prächtigen Sarkophag bestattet. Zwei Nächte später erschien unter größter Heimlichtuerei ein Mann im Kapuzinerkloster und fragte nach dem Abt. Der Ankömmling, bei dem es sich um den Prinzen Eugen von Savoyen handelte, holte den goldenen Schrein mit dem furchtbaren Kelch unter seinem knöchellangen, schwarzen Mantel hervor. Zusammen mit Abt Elegius von Bullenberg ging er in die Gruft hinunter, stemmte den Sarg noch einmal auf und drückte dem friedlich daliegenden Herrscher den goldenen Kasten in den Arm.
Prinz Eugen und Bruder Elegius sahen sich stumm an, bekreuzigten sich und ließen erst jetzt dem Kaiser die ewige Ruhe. So dachten sie jedenfalls.
Dass Leopold wieder einmal vorausschauend und klug gehandelt hatte, wurde den beiden Männern bewusst, als Joseph zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt wurde. Sofort ließ er das bayrische Oberland und München besetzen, erhöhte die Steuern und knechtete das bayrische Volk so stark, dass es zu diversen Aufständen kam. Die Losung hieß: »Lieber bairisch stea'm als kaiserlich verdea'm«. Die Auseinandersetzungen endeten schließlich in der sogenannten »Sendlinger Mordweihnacht«, als kaiserliche Truppen bereits gefangene aufständische Bauern, die überdies die Waffen niedergelegt hatten, ohne Pardon und auf grausamste Weise niedermetzelten. Hier lud der Kaiser persönliche Schuld auf sich, indem er schon im Vorhinein den Befehl zu diesem Massaker gab.
»Joseph ist mir wie ein Bruder«, kommentierte Prinz Eugen vor dem Kapuzinerabt das hasserfüllte Geschehen, »aber ich bin froh, dass wir ihm den verdammten Kelch entzogen haben. Er hätte Europa damit ausgerottet.«
***
Gegenwart:
»Was starrst du mich an wie eine Kuh bei Gewitter, Chéri? Ist doch ganz einfach.« Nicole lächelte ihren Geliebten an.
»Bei Frauen ist nie etwas einfach. Also, dann lass mal hören, wie du dir das im Einzelnen vorstellst.«
»Gleich, mein einfach gestrickter Chéri. Ich muss nur noch mal kurz telefonieren.«
Nicole rief erneut im Château Montagne an. Sie bat William, ihnen alles, was über die Pestdämonin Labartu bekannt war, zu übermitteln. Vor allem aber deren Sigill.
»Sie hat nämlich eines«, erläuterte Nicole. »Du müsstest es auch gesehen haben. Es prangt in voller Pracht und Herrlichkeit auf dem Pestkelch. Das ist mir wieder eingefallen. Und in direkter Folge meine Idee. Gut, was? Frauen ticken eben einfach schneller.«
»Vor allem ticken sie nicht immer ganz richtig.« Der Professor grinste. »Aber in diesem Falle wohl schon. Ich begreife so langsam, worauf du hinauswillst.«
»Schön. Und nun werde ich versuchen, diese winkende Katze noch
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