0867 - Emily
Tasse mit der warmen Milch, etwas Konfitüre, zwei Croissants.
Sie setzte sich an den kleinen Tisch und aß.
Claire war neben der Tür stehengeblieben und hatte sich so aufgebaut, daß sie ihren Schützling beobachten konnte. Sie kannte Emily gut, sie konnte aus ihrer Reaktion herauslesen, wie sie reagieren würde, wenn sie draußen war.
An diesem Tag sehr gut. Sie schien tief geschlafen zu haben, ihre Augen waren hellwach und nicht mehr so verschleiert wie an anderen Tagen.
Sie sprach mit der Mamsell über ihre Zeit nach der Entlassung und versprach zum wiederholten Male, daß sie gern wiederkommen würde, um ab und zu zu frühstücken.
Die Mamsell erklärte, wie sehr sie sich darüber freuen würde, und das wiederum freute auch Emily.
»Iß etwas schneller, Emily, ich habe noch zu tun!« Claires scharfe Stimme unterbrach die Unterhaltung der beiden.
Damit war die Mamsell nicht einverstanden. »Lassen Sie das Mädchen doch in Ruhe essen, Claire. Es hat doch sonst nichts.«
»Mischen Sie sich da nicht ein.«
»Schon gut.« Mamsell wischte die Hände am Kittel ab. So war es immer, sie zählte zu den Verliererinnen, immer wieder. Dabei versuchte sie nur, etwas menschlich zu handeln und der einen oder anderen Gefangenen Erleichterung zu verschaffen.
Emily schaute hoch.
»Na, ein bißchen flott jetzt.«
»Ja, Claire.«
Sie hatte Hunger gehabt und aß auch noch die letzten Krümel des Hörnchens. »Danke für das Essen, Mamsell!« rief sie und stand auf.
»Keine Ursache. Bis morgen dann.«
»Klar doch.«
Claire stand wieder an der Tür. Aufrecht, eine harte Gouvernante, sehr streng und lauernd beobachtend.
Emily blieb vor ihr stehen. Die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Was soll ich denn jetzt machen? Darf ich etwas im Park spazieren gehen? Erlaubst du das?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Du wirst erst deine Sachen waschen.«
»Ach so, ja.«
»Der Korb steht bereits in der Waschküche. Laß uns hinuntergehen. Danach kannst du dich dann beschäftigen. Draußen ist es sowieso zu warm. Erst am Abend soll es abkühlen.«
»Darf ich dann hinaus?«
»Mal schauen.«
In der Waschküche hatte es Emily noch nie gefallen. Der Raum war groß, immer feucht, hatte eine niedrige Decke, und das Wasser lief immer an den Wänden herab. Es gab noch die alten Tauchbecken und auch zwei museumsreife, durch Wasserkraft angetriebene Maschinen, aber die wurden nicht mehr benutzt. Emily konnte ihre Wäsche in die neue Maschine stopfen, und wieder blieb Claire bei ihr. Wiederholt beobachtete sie das auf einem Hocker sitzende Mädchen, was Emily nicht verborgen blieb, und sie fragte plötzlich: »Warum siehst du mich so an?«
»Ich überlege.«
»Was denn?«
»Es liegt auf der Hand, daß ich über dich nachdenke.«
»Das lohnt sich nicht.«
»Tatsächlich nicht?« höhnte Claire. »Ich frage mich, was in einer Person vorgeht, die ihre Eltern mit einer Gartenschere getötet hat. Das frage ich mich immer wieder.«
»Ich weiß es nicht, aber Doktor Prudomme wird es bestimmt wissen. Fragen Sie den.«
»Vielleicht…«
»Der kann Ihnen mehr sagen.«
»Das überlasse mal ihm.« Claire schlug die Beine übereinander und beobachtete eine Spinne, die über den Boden kroch und sich ihr näherte. Als sie nahe genug herangekommen war, hob sie blitzschnell den Fuß und zertrat sie.
»Oh, warum hast du das getan?«
»Warum nicht?«
»Aber sie ist doch harmlos gewesen.«
»Waren das deine Eltern nicht?« höhnte Claire, die alles andere war, nur keine Psychologin.
Emily senkte den Kopf. »Das verstehst du nicht.«
»Dann erkläre es mir.«
»Nein, ich will nicht.«
»Kann ich mir denken.«
Emily hielt den Kopf auch weiterhin gesenkt. Wenn diese Claire so weitermacht, dann wollte sich Emily etwas einfallen lassen. So etwas konnte sie sich nicht gefallen lassen. Sie war schließlich kein Stück Dreck, aber Claire behandelte sie so. Sie sollte es nur nicht zu weit treiben, dann würde es Ärger geben.
»Wir gehen nach oben!« entschied die Frau.
»Aber die Wäsche…«
»Wäscht von allein. Man wird sie dir bringen. Ich habe einfach nicht so viel Zeit.«
»Verstehe.« Emily erhob sich. In den letzten Minuten hatte sie sich mit einer Frage beschäftigt, die sie auch jetzt stellte. »Wenn ich nach oben gehe und male, darf ich dich dann malen, Claire? Oder hast du etwas dagegen?«
»Du willst mich malen?«
»Ja.«
»Was ist der Grund?«
»Ich soll malen, hat mir der Doktor gesagt. Er hat dabei von einer Therapie
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