0867 - Emily
gesprochen.« Nach diesen Worten lächelte sie, und Claire gefiel dieser Ausdruck nicht. Das Lächeln war da, aber die Augen lächelten nicht mit. Sie hatten einen anderen Ausdruck bekommen. Ihr Blick schien Claire zu verhöhnen.
Die Frau wurde unsicher. Sie wußte im Moment nicht, wie sie sich dieser Person gegenüber verhalten sollte.
Emily sah so harmlos aus mit ihrem Lockenkopf, àber hinter dieser puppenhaften Fassade verbarg sich der Körper eines Teufels. Claire schaffte es einfach nicht, dem Blick standzuhalten. Schließlich senkte sie die Augen und nickte. »Ja«, stimmte sie zu, »du darfst mich malen.«
»Das ist toll.«
»Darf ich das Bild denn auch sehen?«
»Später, wenn es fertig ist, aber nur, wenn es mir super gefällt.«
»Ist mir gleich.«
Sie verließ die feuchte Unterwelt des Kellers. In den Nebenräumen wurde gebügelt. Da war die Luft so schwül, daß man sie hätte schneiden können. Sie gingen die Treppe hoch und erreichten den Mittelflur, der die beiden Trakte des Hauses trennte.
Claire führte die Patientin zu ihrem Zimmer. Sie schloß die Tür auf und ließ Emily eintreten. »Wo willst du essen?« fragte sie noch. »Hier im Zimmer?«
»Ja. Was gibt es denn?«
»Laß dich überraschen.« Claire schloß die Tür von außen und drehte zweimal den Schlüssel.
Eingesperrt - wieder einmal. Emily machte es nichts aus. Sie war es gewohnt, und sie ging zu ihrem Schrank, um die Malutensilien hervorzuholen.
Damit setzte sie sich an den Tisch und packte die Stifte aus.
Buntstifte. Verschiedene Farben, aber auch Kugelschreiber und farbige Filzstifte. Emily ging vor wie ein Beamter. Sie legte die Stifte akkurat nebeneinander, dann schwang sie das Deckblatt des Zeichenblocks zurück.
Fertig.
Sie konnte beginnen, malen, was ihr in den Sinn kam. Es war so einfach, aber sie zögerte, denn sie war sich nicht sicher, welche Grundfarbe sie wählen sollte. Vor ihr lag der Block mit dem weißen Papier. Da paßte eigentlich alles. Am besten jedoch schwarz. Jeden Stift hatte sie am letzten Abend noch angespitzt, das tat sie immer, denn sie haßte es, mit stumpfen Farbstiften zu zeichnen. Sie nahm ihn also, drehte ihn zwischen den Fingern, und auf ihrer Stirn malte sich eine tiefe Falte ab, Zeichnen eines angestrengten Überlegens.
Was sollte sie denn malen? Oder wen?
Bilder schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen an Zeichnungen. Sie hatte Menschen gemalt, Tiere, auch die Umgebung dieses Hauses hier, den Garten, den Himmel und einige Autos. Motive gab es also in Hülle und Fülle, trotzdem kam sie nicht zurecht. Kein Bild, das vor ihren Augen herwischte, sagte ihr zu.
Die Bilder huschten weiter, es gab neue, sie gefielen ihr ebenfalls nicht, und die Gedanken blieben an dem hängen, was sie zuletzt gemalt hatte. An dem Rattenmann.
Ja, da mußte sie weitermachen. Sie hatte ihn gezeichnet, er war ihr nicht fremd gewesen. Früher einmal, als man sie noch nicht eingesperrt hatte, war er ihr einige Male begegnet, sie hatten sich unterhalten, das Mädchen und der Clochard.
Er hatte ihr dann von seinem Leben erzählt, und sie hatte von ihrem berichtet. Und er hatte bei Emily einen großen Eindruck hinterlassen. Da hatte sie ihn einfach zeichnen müssen.
Nun gab es ihn nicht mehr.
Sie mußte sich auf ein anderes Motiv konzentrieren. Es war nur seltsam, daß der Friedhof sie gedanklich nicht mehr losließ. Immer wieder flackerten die Bilder vor ihren Augen auf. Sie sah die hohen Bäume, die Wege, die Gräber, sie glaubte auch, den Hauch des Todes zu spüren, der über dem Gelände schwebte, aber nichts von dem wollte sie zeichnen. Es war ihr einfach nicht gut genug.
Es war ihr auch zu tot, sie brauchte andere Dinge. Lebewesen.
Ratten?
Nein, aber es kamen ihr die drei Zeugen in den Sinn. Auf einmal huschten die Bilder nicht mehr weiter. Ruckartig blieben die Fetzen der Erinnerung stehen.
Drei Menschen!
Zwei Männer und eine Frau!
Sie hatte sich nicht so stark auf sie konzentriert. Deshalb mußte sie die Gestalten erst aus ihrer Erinnerung hervorholen, was gar nicht einfach für sie war.
Tief grub sie im Schacht, sie wollte unbedingt herausfinden, wie die drei aussahen.
Zwei von ihnen sahen fremd aus. Sie waren Menschen aus einem anderen Erdteil.
Der andere aber…
Emily runzelte die Stirn. Die drei Leute hatten genau gesehen, was passiert war. Zeugen. Sie wollte sie nicht unbedingt haben, nein, das mußte nicht sein.
In ihrem Innern dachte sie an den Begriff der Gefahr. Es war durchaus
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