0867 - Emily
möglich, daß diese Zeugen ihr gefährlich werden konnten, und sie spürte auch, daß die drei etwas Besonderes waren.
Als sensible Person spürte sie das überdeutlich. So reagierten nicht alle Menschen. Zwischen ihr und diesen drei Zeugen bestand ein besonderer Kontakt.
Die hatten etwas an sich, das Emily warnte. Und deshalb drückte sie den Stift noch nicht auf das Papier. Abwarten… lauern… noch weiter nachdenken.
Tat sich etwas?
Nein, nichts passierte. Obwohl sie ihren Blick auf die Tür gerichtet hielt, wurde diese nicht geöffnet.
Keiner betrat das Zimmer, man ließ sie allein.
Sie hätte auch Claire malen können, die aber wollte sie sich für später aufbewahren.
Emily senkte den Stift. Die Spitze berührte das Papier, ein erster Strich entstand. Er wurde von unten nach oben geführt, um dort in einem Bogen auszulaufen.
Weiter malte sie nicht.
Die Störung war da und hatte in ihrem Kopf eingeschlagen wie ein zuckender Blitz. Sie glaubte sogar, ein wütendes Kreischen oder Knistern in ihrem Schädel zu hören, was auch einem Irrtum entsprechen konnte. Aber es gab Dinge, die sie nicht übersehen sollte. Gerade hier nicht, wo es für sie immer enger wurde.
Was hatte sie gestört?
Emily dachte darüber nach, ohne jedoch eine Lösung finden zu können. Es war plötzlich alles verschwommen. Nebel durchstreiften ihren Kopf, aber hinter oder in den Nebelschleiern zeichneten sich genau die drei Gestalten ab, die sie malen wollte.
Das war nicht schlimm. Schließlich mußte sie sich erinnern. Andere Dinge kamen hinzu.
Eine bedrückende Furcht, und die meldete ihr etwas Schreckliches. Es war geschehen, es war passiert. In der Nähe, nicht weit von ihr weg, hielten sich die drei Personen auf.
Emily setzte sich steif hin.
Plötzlich schmerzte ihr Kopf vom Denken. Da bohrten sich scharfe Stiche hinein, die natürlich einen Grund hatten. Lange brauchte sie nicht nachzudenken, aber sie stöhnte auf. Der Stift rutschte ihr aus den Fingern. Für ein paar Sekunden preßte sie beide Hände vor ihr Gesicht. Emily wußte Bescheid.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Die drei Personen waren gekommen. Sie waren hier. Sie befanden sich in ihrem Haus. Sie würden auch zu ihr kommen - irgendwann…
Emily bekam Angst!
***
Doktor Prudomme sah nicht so aus, wie man sich einen Arzt landläufig vorstellt oder ihn aus TV-Serien kennt. Er war weder schmuck noch gütig, er war auch nicht väterlich, weißhaarig und opahaft, nein, er war ein völlig normaler Mensch, ein Typ aus dem Leben, und er hatte nichts Besonderes an sich, abgesehen von seinem weißen Kittel, den er aber nicht zugeknöpft hatte, so daß sein T-Shirt zu sehen war, das auf der Brust den bunten Aufdruck einer Ente zeigte. Möglicherweise wollte er damit dokumentieren, daß er die Welt nicht so ernst nahm und es seine Patienten auch nicht tun sollten.
Er hatte graue Struwwelhaare, ein längliches Gesicht mit einer ebenfalls langen Nase und einen traurigen Mund.
Dieser Gesichtsausdruck paßte wiederum nicht zu dem lustigen T-Shirt, aber das war uns egal. Wir wollten uns nicht mit ihm über eine Kleiderordnung unterhalten, sondern über eine Patientin namens Emily Craton. Wir saßen uns in der Sitzgruppe gegenüber, die gut hätte eine Aufpolsterung vertragen können, und wir hatten den Arzt bereits in unsere Probleme eingeweiht.
Er hatte uns zugehört, und wir warteten auf eine Reaktion seinerseits. Natürlich wußte er nicht alles.
So hatten wir ihm nicht davon berichtet, wie Absalom, der Rattenfreund, plötzlich vor unseren Augen verschwunden war, regelrecht zerschnitten, wir hatten ihm nur davon berichtet, daß ein Sterbender den Namen Emily Craton einige Male ausgesprochen hatte, und wir nun die Spur aufnehmen wollten.
Zudem hatte sich auch der Inspektor Daladur mit dem Arzt in Verbindung gesetzt und für uns gesprochen. Daladur selbst war nicht mitgekommen. Er hatte keine Lust verspürt.
Prudomme nickte. »Es geht also um das Mädchen, um Emily, die Mörderin ihrer Eltern. Sie hatte Vater und Mutter im Schlaf mit einer Heckenschere umgebracht. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen ja nicht in allen Einzelheiten auszumalen.«
Nachdem wir den Schrecken überwunden hatten, lächelte Prudomme. »Man hat die damals Fünfzehnjährige nicht in eine normale Zelle gesperrt, man überließ sie uns. Und ich habe mich zwangsläufig mit diesem interessanten Fall beschäftigt.«
»Sie sagen selbst, daß er interessant war«, wiederholte
Weitere Kostenlose Bücher