0868 - Die Toten-Krypta
freigesetzt werden. Sie kann sich durch die Malerei wunderbar ablenken, denke ich, und wenn es möglich ist, werde ich mir die kleinen Kunstwerke einmal näher anschauen.«
Ich wunderte mich schon. »Sie haben die Bilder bisher noch nicht zu Gesicht bekommen?«
»Leider nein.«
»Das muß doch einen Grund haben.«
»Sie wollte es nicht. Ich konnte Emily auch nicht überzeugen. Sie hat gemalt, und sie hat die Bilder anschließend zerschnitten, so daß wir nichts, aber auch gar nichts zu Gesicht bekamen. Stimmt es, Claire?«
»Nicht ganz. Ich weiß mehr als Sie.«
»Klar, Sie sind ja auch näher bei ihr.«
»Richtig, Doktor. Und deshalb kann ich auch beurteilen, daß dieser Mensch hier neben mir Unsinn erzählt. Er kennt Emily nicht. Er kann sich einfach nicht in sie hineinversetzen, das sollte endlich mal in seinen Kopf hineingehen, aber das ist eben nicht der Fall. Es geht oder will nicht hineingehen. Er zeigt sich sehr störrisch. Ich wäre dafür, daß Sie ihn entfernen, Doktor.«
Mir kam allmählich die Galle hoch. Am liebsten hätte ich die Tante gepackt und durch das geschlossene Fenster geworfen. Prudomme griff schlichtend ein und bat darum, keinen Streit vom Zaum zu brechen. Er kam zurück zum eigentlichen Thema. »Sie sind also der Ansicht, Monsieur Sinclair, daß gewisse Dinge in einem besonderen Zusammenhang mit den Zeichnungen stehen. Oder irre ich mich?«
»Nein.«
»Warum?« Er lächelte. »Was können Zeichnungen Negatives auslösen? Bisher war ich der Ansicht, daß sie heilen.«
»Das stimmt in der Regel, aber nicht bei Emily.«
»Warum nicht?«
»Sie ist besessen.«
»Ach.«
Claire lachte schrill. »Das glauben Sie doch selbst nicht. So etwas bilden Sie sich ein.«
»Lassen Sie ihn reden«, erklärte Prudomme unwirsch.
»Pardon.«
»Ich gehe davon aus, daß sie tatsächlich besessen ist, allerdings nicht so, wie Sie möglicherweise denken. Bei dem Begriff besessen denkt man automatisch an einen Exorzisten, der einem Besessenen den Teufel oder Dämon austreibt. Das ist es nicht.«
»Was dann?«
»Es ist der Kontakt zu einem anderen Reich, zu einer anderen Dimension, zu einer anderen Welt.«
Ich hatte die Katze aus dem Sack lassen müssen. Es ging nicht mehr so weiter. Dieser Dr. Prudomme wollte Tatsachen hören, und die kriegte er.
Bisher hatte er einen Kugelschreiber in den Händen gehalten. Der entglitt ihm nun und fiel mit einem klackenden Laut auf den Schreibtisch zurück. »Sie wissen, was Sie da gesagt haben, Monsieur Sinclair?«
»Ja, das weiß ich.«
»Glauben Sie daran?«
»Mehr als das.«
»Dann können Sie. Beweise herbeischaffen?«
»Diese Beweise gibt es, und sie werden Sie an den Personen erleben, die in dieses Spiel eingestiegen sind. Zum Beispiel bei Ihrer Patientin Emily Craton. Sie verfügt über Fähigkeiten, die nur wenige Menschen aufzuweisen haben.«
»Das Talent zum Malen.«
»Ja, aber dabei ist es nicht geblieben. Jemand leitet sie. Es gibt eine Kraft, die Emily benutzt und die dafür Sorge trägt, daß die Person oder der Gegenstand, den sie zeichnet, nicht nur einmal vorkommt, nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit. Er wird an anderer Stelle lebendig, und sie kann ihn ebenso zerstören, wie sie ihn gemalt hat. Dazu brauchte sie ihre Zeichnungen nur zu zerschneiden, Doktor. Das ist es, was Sie wissen sollten.«
Prudomme war sprachlos. Nicht so seine Mitarbeiterin. Es war keine Sirene, deren Klang durch das Zimmer gellte, sondern das wilde Schreien der Frau. Oder sollte es ein Lachen sein?
Sie war von mir weggetreten, als hätte ich die Pest. Leicht nach hinten gedrückt stand sie auf der Stelle, sie lachte mit weit geöffnetem Mund, sie konnte sich nicht beruhigen und war rot angelaufen.
Auch Dr. Prudomme war durcheinander, was bei ihm schon etwas heißen sollte. Jedenfalls blickte auch er mich an, als hätte ich ihm etwas Schreckliches berichtet.
Mir fiel auf, daß sich die Bürotür öffnete. Sehr langsam schwang sie nach innen. Möglicherweise machte mich auch das mißtrauisch, aber das schreiende Lachen lenkte mich trotzdem noch ab.
Jemand betrat das Zimmer.
In den nächsten Sekunden schlug mein Herz rasend schnell. Ich mußte erst überreißen, was ich da sah, denn dieser Jemand saß eigentlich sprachlos hinter seinem Schreibtisch.
Der andere ging einen Schritt in das Büro hinein.
Ich zog meine Beretta.
In diesem Augenblick bewegte sich Claire auf mich zu. Noch immer lachend, diesmal aber mehr prustend, nach vorn
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