0868 - Die Toten-Krypta
Aber zwei bekannte Stimmen, die aus dem Eingangsbereich an meine Ohren drangen, waren nicht zu überhören.
Shao und Suko kamen, sahen mich, ich sah sie, wir blieben alle drei stehen, und plötzlich fand ich es gut, daß sie zur rechten Zeit gekommen waren.
Fast flehend schaute mich Shao an und fragte mit einer ebenso klingenden Stimme: »Was ist denn passiert?«
»Das erzähle ich euch auf dem Weg.«
»Zu wem?«
»Zu Emily, dem kleinen Satan…«
***
Das Mädchen sah im Gesicht aus, als hätte es in eine Zitrone gebissen. Es war jedoch kein saurer Geschmack, der den Ausdruck der Wut in ihr Gesicht hineingemeißelt hatte, sondern allein die Tatsache, daß ihr Plan nicht funktioniert hatte. Wenn sie eine Figur zeichnete, brachte sie auch ein Stück von sich selbst ein. Sie lebte mit dieser Figur, sie wußte genau, was die andere tat, sie litt mit ihr, sie freute sich mit ihrem »Kind«, aber sie brachte ihm auch, wenn es nicht so parierte, wie sie wollte, Haßgefühle entgegen.
Wie jetzt!
Schüsse waren gefallen.
Emily hatte sie »gehört«. Sie waren wie eine Botschaft gewesen. Zwei Schüsse, und die Kugeln hatten auch getroffen. Sie waren in den Körper eines Menschen gefahren, nur war es leider der falsche Mensch gewesen, der andere lebte noch.
Der Teenager saß vor seinem Schreibtisch. Die Arme aufgestützt. Die Hände zu Fäusten geballt.
Rechts und links ihres Gesichts bildeten sie diese harte Zeichen.
Zwei Schüsse!
Und dann?
Der andere, der eigentlich hätte tot sein sollen, hatte geschossen. Auch er hatte zwei Schüsse abgegeben, und Emily litt.
Erst stöhnte sie, laut und knurrend. Dann änderte sich dieser Tonfall. Er wurde höher, heulender, klang auch wütender und veränderte sich zu einem Schrei.
Ihre Wut und ihr Frust mußten sich freie Bahn verschaffen. Sie befand sich plötzlich in einem geistigen Gefängnis mit dicken Mauern, und diese mußte sie durchbrechen.
Schreien!
Sehr laut und schrill!
Emily schrie, ohne überhaupt Luft zu holen. Ihre Augen verdrehten sich dabei, der Mund stand weit offen, die Schreie hatten freie Bahn, aber sie blieben innerhalb der dicken Wände. Sie kehrten als Echos zurück und tobten durch den Kopf des Mädchens.
Emily sackte plötzlich zusammen. Sie schlug dabei mit dem Kinn auf die Schreibtischplatte. Der Mund stand noch immer offen. Speichel floß hervor, und die Schreie hatten sich verändert. Nur mehr ein Knurren entstand in ihrer Kehle.
Ihr Werk war getroffen worden. Ihre Figur verspürte Schmerzen. Sie bewegte sich noch, aber sie war verletzt. Sie taumelte von den anderen weg. Deren Schmerzen übertrugen sich auf sie. An zwei verschiedenen Stellen ihres Körpers, alles im Bereich der Brust, spürte sie die Stiche, als wäre eine schmale, unsichtbare Messerklinge an den beiden Stellen in sie eingedrungen.
Emily schnappte nach Luft. Für einen Moment drehte sich das Zimmer vor ihren Augen. Die Wände wurden zu einem rasenden Karussell. Ihre Augen waren verdreht. Das Gefühl des Hasses beherrschte sie. Sie haßte sich selbst, aber sie übertrug diesen Haß auf die Person, die sie geschaffen hatte.
Es war wie damals bei ihren Eltern.
Kurz vor ihrem Tod hatten sie die gleichen Gefühle durchtost. Sie hörte die Botschaft in sich. Die ferne Stimme, die sie wieder antrieb und ihr riet, es zu tun.
Die Schere lag griffbereit.
Emily knurrte stärker, als sie ihren Arm ausstreckte und nach dem Metall griff. Es schmiegte sich kühl um ihre erhitzten Finger, und es tat ihr so gut.
Sie war froh.
Mit der linken Faust schlug sie gegen das leere Blatt Papier, das vor ihr lag. Es waren die Schläge, die einer anderen Person galten.
Emily wollte sie nicht mehr.
Die Schere!
Das Blatt!
Sie nahm es in die linke Hand, die Schere hielt sie in der rechten. Und sie begann zu schneiden.
Schnipp… schnipp… schnipp…
Es schrillte durch ihren Kopf. Das hohe Sägen, die Erinnerungen an damals, die Schreie, die jeder Schnitt begleitete, alles drang wieder in ihr hoch.
Sie hörte das harte Geräusch der Schere. Es war die Musik, die sie brauchte, und Emily schnitt schneller, immer schneller.
Sie hatte das Blatt etwas hoch über die Platte des Schreibtisches gehalten. Dort schnitt sie weiter, und sie schaute zu, wie die Schnipsel nach unten trudelten, um sich auf dem Schreibtisch zu verteilen. Immer schneller schnitt sie, das Blatt wurde kleiner und kleiner, bis nur mehr ein Rest zurückblieb.
Ein kleiner Rest, der aus ihren Fingern rutschte und ebenfalls
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