0868 - Die Toten-Krypta
mich um.
Vor mir stand eine Leiche!
Ich erschrak, denn im ersten Augenblick glaubte ich tatsächlich, einen Zombie vor mir zu sehen, so bleich war Dr. Prudomme geworden. Daß er noch stand, glich einem Wunder. Er atmete nicht mehr und stierte nur dorthin, wo er selbst so urplötzlich verschwunden war - fassungslos mit Tränen in den Augen.
»Kommen Sie«, sagte ich zu ihm.
Er reagierte nicht auf meine Stimme. Erst als ich ihn anfaßte und er den Druck meiner Hand spürte, schrak er zusammen. Jetzt stierte er mich an, die Lippen bewegten sich, nur hörte ich kein einziges Wort. Er konnte einfach nicht sprechen.
Ich führte ihn in sein Büro.
Claire lag noch immer vor dem Schreibtisch. Die beiden Schußwunden bluteten kaum. Etwas hatte sich doch an ihr verändert. Die Augen der Frau waren geschlossen. Ich ging davon aus, daß Dr. Prudomme sie zugedrückt hatte, wie man es eben bei einem Toten tat.
»Haben Sie hier etwas Scharfes zu trinken? Einen Cognac oder einen Whisky?«
»Schrank«, flüsterte er.
Damit war sicherlich der schmale Büroschrank gemeint. Die rechte Tür öffnete ich zuerst, aber nur Akten in Hängefächern entdeckte ich.
An der linken Seite sah es anders aus. Zwischen zwei zusammengefalteten Arztkitteln stand eine halbvolle Flasche Cognay. Gläser entdeckte ich ebenfalls.
Ich holte zwei und stellte sie auf den Schreibtisch. Während ich einschenkte, warf ich dem Arzt einen kurzen Blick zu. Er stand zwar noch, mußte sich aber an der Lehne seines Schreibtischstuhls abstützen und machte den Eindruck eines Menschen, der zur Behandlung in die Klinik gekommen war.
Ich ging zu ihm, reichte ihm das Glas. Er nahm es mit zitternden Händen entgegen.
»Trinken Sie!«
»Qui…«
Er leerte den Schwenker. Mir reichten zwei kleine Schlucke, bevor ich das Glas wieder abstellte.
Auch der Arzt stellte es leer hin, allerdings so heftig, daß es beinahe zerbrochen wäre, und er schüttelte den Kopf. »Sinclair«, flüsterte er mir rauh zu. »Sinclair, sagen Sie nicht, daß es die Wahrheit gewesen ist, die ich gesehen habe.«
»Sorry, aber es war die Wahrheit.«
Er stierte mich an. Rote Äderchen lagen in seinen Augen. Dann schluckte er. »Es war… es… es war… ich?«
»Ihr Doppelgänger.«
»Ge… schaffen - wie?« Er sprach abgehackt.
»Richtig.«
»Durch wen?«
»Sie wissen es.«
Als er atmete, strömte die Luft pfeifend aus seinem Mund. »Ich brauche noch einen Schluck, Sinclair. Bitte, wenn Sie so gut sein würden.«
Ich nahm sein Glas und schenkte ein. Der Arzt bedankte sich mit einem Nicken. Wieder hielt er das Glas mit beiden Händen, leerte es, stellte es ab und trat von seinem Schreibtischstuhl zurück, wobei er durch das Büro ging wie ein Betrunkener, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Am Schrank blieb er stehen und lehnte sich gegen die Kante. Beim Sprechen schaute er mich nicht an.
»Ich habe es Ihnen nicht glauben wollen, ich habe Claire vertraut, aber jetzt…«
»Ist Claire tot?«
Er nickte. »Ja, sie ist tot. Eine Kugel hat ihr Herz getroffen. Ich hätte niemals gedacht, daß ich es einmal sein würde, der ihr die Augen schließt.« Er zeigte auf sie. »Auch wenn Sie etwas anderes denken, Sinclair, ich bin mit ihr gut ausgekommen.«
»Das glaube ich Ihnen.«
»Jetzt ist sie tot.« Er räusperte sich. »Aber das Leben geht weiter, und was bedeutet das für uns?«
»Emily.«
»Ja, Emily«, flüsterte er. »Der Satan Emily. Ich habe mich noch nie dermaßen in einem meiner Patienten getäuscht. Das ist nicht zu fassen, das ist…«
»Bitte, Doktor. Bevor Sie sich in etwas hineinsteigern, überlassen Sie Emily mir.«
Er nickte, dann schaute er mich an. »Und was werden Sie tun? Werden Sie Ihre Waffe nehmen und ihr eine Kugel verpassen? Wird das der Sinn Ihres Besuches bei ihr sein?«
»Wohl nicht.«
»Sie wollen sie überzeugen - oder?«
»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an unsere Unterhaltung erinnern können, aber ich will noch immer wissen, was und welche Kraft hinter ihr steckt. Das ist es doch.«
»Sie glauben daran.«
»Ja.«
»Dann tun Sie es.«
Ich ließ den Mann allein. Er war Arzt, er war erwachsen. Auch wenn für ihn eine Welt zusammengebrochen war, er war wieder soweit okay, daß er meine Hilfe nicht mehr brauchte.
Den Weg zum Trakt kannte ich. Unterwegs sah ich andere Patienten, die sich auf einem Flur versammelt hatten. Sie kamen mir vor wie Geister, und ich registrierte sie kaum, denn für mich ging es einzig und allein um Emily.
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