0868 - Die Toten-Krypta
du?«
Emily hatte schon weitergehen wollen, jetzt aber riß sie sich zusammen und wies auf das leere Podest. »Ich… ich möchte dorthin«, sagte sie. »Ja, ich möchte da bleiben. Ich fühle mich dort wohl, das weiß ich schon jetzt, wenn du verstehst.«
»Nein, noch nicht.«
»Ich werde sie fühlen können.«
»Aber sie ist nicht da, das weißt du.«
»Stimmt. Doch sie hat etwas zurückgelassen, was ich genau spüre. Es kribbelt in mir. Es ist wie Strom, aber trotzdem anders. Es ist eine Energie…«
»Mondlicht?«
Nach dieser Frage schaute sie hoch zur Kuppel. Noch immer fing sich der Mondschein im Glas der Kuppel, ohne jedoch als scharfer, gebündelter Strahl nach unten gestochen zu werden. »Ja - auch, es gehört einfach dazu.«
»Spürst du sie noch?«
Emily ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie schaute sich um und ließ dabei ihre Handflächen am Körper entlang nach unten gleiten. »Sie ist doch überall. In jedem Stein, in jeder Fuge, in der Decke, auf dem Boden und in den Wänden. Sie… sie hat auf mich gewartet, glaube ich.«
»Dann geh hin.«
Von dieser Aufforderung zeigte sich Emily überrascht. »Du… du… meinst das wirklich so?«
»Ja.«
»Willst du mich denn loswerden?«
»Nein, Emily, nein, ich will dich beschützen, aber ich weiß auch, daß du dieses Rätsel einfach irgendwann einmal lösen mußt. Du kannst es nicht dein gesamtes Leben mit dir herumschleppen. So denke ich, und ich glaube, es ist nicht falsch.«
»Ja, Zebulon, das ist die Wahrheit. Beinahe habe ich den Eindruck, als gehörte alles dazu. Zu meinem Leben, zu meinem besonderen Leben. Da stimmst du mir zu, wie?«
»Sicher.«
»Ich habe schon immer besonders gelebt, auch damals noch, als ich meine Eltern nicht mehr wollte…« Sie lachte plötzlich, als wäre der Geist eines bösen Kobolds in sie gefahren, dann ließ sie sich von Zebulon auch nicht mehr zurückhalten.
Der Schattenkrieger drehte sich um. Er hatte die leisen Tritte gehört und sah an der Eingangstür seine Freunde stehen. Absalom befand sich nicht dabei.
Zebulon winkte ihnen zu, sich nicht zu rühren, und sie deuteten ihr Einverständnis durch ein Nicken an.
Emily Craton aber war weitergegangen. Der Schattenkrieger schaute auf ihren Rücken. Für ihr Alter wirkte sie ziemlich klein, aber sie war durchaus stämmig gebaut, eine etwas plumpe, puppenhafte Gestalt, die nun das Podest erreicht hatte und zunächst für eine Weile davor stehenblieb, als wollte sie sich den letzten Schritt noch einmal genau überlegen. Wieder blickte sie in die Höhe. Emily öffnete dabei den Mund. Sie genoß das Mondlicht wie einen Trank.
Es tat ihr gut.
Ihr ging es immer besser.
Schnipp… schnipp… schnipp…
Nur kurz hörte sie das Geräusch in ihrem Kopf, aber sie konnte damit umgehen, es störte sie nicht mehr. Es war der Anfang gewesen, heute wußte sie es genau. Da hatte der Kontakt begonnen und sich später intensiviert. Alles war in Ordnung, sie würde sich in dieser Nacht einen Traum erfüllen können, und sie wußte plötzlich, daß La Luna nur auf sie gewartet hatte, obwohl sie nicht mehr auf dem Sockel stand.
Den aber betrat das Mädchen.
Einen großen Schritt nach vorn. Dabei das Bein anhebend, dann hatte sie es geschafft.
Tief holte sie Luft.
Sie stand auf dem Steinpodest und bemerkte, daß alles irgendwie anders geworden war. Die Umgebung hatte sich zwar äußerlich nicht verändert, aber es war etwas zurückgeblieben, das ihr La Luna als Erbe hinterlassen hatte.
Emily spreizte die Arme vom Körper weg. Dann drehte sie sich auf der Stelle. Sehr langsam nur, und es sah auch tappsig aus, aber sie brauchte diese Bewegung einfach. Sie gab ihr Kraft, sie war gut, sie empfand es als toll.
Den Kopf hielt sie so zurückgedrückt, daß sie gegen den gläsernen Ausschnitt der Kuppel schauen konnte. Er war nicht sehr groß, aber er reichte ihr völlig.
Das Glas schwamm im bleichen Licht des Mondes. Es kam ihr vor wie ein heller See, auf dem sich die Wellen wie zuckende Streifen bewegten, auseinanderliefen, wieder zusammenkamen und ständig neu variierten. Das Licht hatte sich in silbriges Wasser verwandelt, sie konnte einfach ihren Blick davon nicht wenden, und Emily wußte auch, daß sich La Luna direkt in ihrer Nähe befand.
Sie brauchte nur hinzugreifen, zuzupacken, um sie erreichen zu können.
Aber sie griff nicht zu. Sie wartete. Die Arme angehoben und dem fließenden Mondlicht entgegengereckt. Wenn sie kam, dann nicht durch die Tür, denn La Luna
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