0871 - Der silberne Tod
Höchstens geprellt. An der linken Schulter und auch am Bein.«
»Gut.«
»Das sagen Sie.« Er hob den Kopf und schaute mich direkt an.
Ich wurde aus diesem Menschen nicht schlau. Er war mir ein Rätsel. Er reagierte völlig normal und nicht wie ein Mann, der vor kurzem noch auf einen ihm völlig Fremden geschossen hatte. Vor mir hockte sicherlich eine zweigeteilte Persönlichkeit, und wenn ich über die Aussagen der jungen Frau nachdachte, dann mußte ihr Onkel tatsächlich unter einem ungeheuren Druck gestanden haben.
»Sie wissen, was Sie getan haben?«
»Ja.«
»Und Sie wissen vermutlich auch, daß Sie haarscharf an einer Mordanklage vorbeigekommen sind.«
»Das weiß ich nicht. Ihr Freund sah aus wie ein Toter, als sie ihn hereinbrachten.«
»Er ist nicht tot. War zum Glück nur ein Streifschuß, und es ist nur recht und billig, daß Sie mir gewisse Dinge erklären, Monsieur Lacombe.«
Er dachte einen Moment nach und sagte dann: »Sie kommen nicht von hier, das höre ich. Sie sind kein Franzose…«
»Ich bin Engländer.«
»Ach so.«
»Das hat nichts zu bedeuten.«
»Meinen Sie?«
»Ja.«
Er seufzte. »Ich habe Ihr Gespräch mit meiner Nichte verfolgt. Ich weiß auch Ihren Namen. Sie heißen Sinclair, was mir zu denken gibt.«
»Wieso?«
»Als Abwandlung ist er in diesem Land nicht ganz unbekannt. St. Clair, wenn Sie verstehen.«
»Ich verstehe, aber das ist nicht das Thema. Den Namen gibt es auch in Schottland und in der Neuen Welt, doch darüber möchte ich nicht diskutieren, ich will von Ihnen wissen…«
»Moment mal«, unterbrach er mich und bemühte sich, an mir vorbei zur Tür zu schauen.
Auch ich drehte mich um, denn in diesem Augenblick hatte auch ich die Schritte vernommen.
Abbé Bloch erschien. Mochte er auch kleiner sein als die meisten Menschen, er gehörte aber zu den Personen, die Charisma ausstrahlten. Es mochte an seinem schlohweißen Haar liegen oder auch an dem Ausdruck in seinen Augen, in denen ein gewisser Wille lag, der zeigte, wie sehr es der Abbé verstand, sich durchzusetzen, ohne großartig mit Worten auftrumpfen zu müssen.
Er war nicht mehr blind. Dank Avalons heilender Kräfte hatte er diese für ihn schreckliche Zeit überstanden, und er war noch immer der großartige Anführer der Templer, einer Gruppe Gerechter, die die einstmals so hehren Ideale des Ordens pflegten.
Wir schauten uns an. »Ich wußte, John«, sagte er leise und dabei den Arm hebend, »daß etwas passiert ist. Ich hatte es einfach im Gefühl, und habe mich nicht geirrt. Ich hörte auch mit, was mit Suko geschah.« Er atmete aus. »Zum Glück lebt er.«
»Das stimmt. Abgesehen davon hätte ich dich auch geholt, Abbé.«
»Das glaube ich dir gern, John.« Er betrat das Haus und blieb neben uns stehen. Dann »begrüßte« er Joseph Lacombe.
»So sieht man sich wieder, Joseph.«
»Hallo, Abbé.«
Mich wunderte nicht, daß die beiden sich kannten. So manches in diesem Fall lief noch an mir vorbei.
»Mir geht es schlecht.«
»Muß wohl.«
»Du bist damals den anderen Weg gegangen, Joseph.«
»Richtig.«
»Und jetzt hast du Angst.«
Lacombe preßte die Lippen zusammen. Er wollte nicht mehr reden. Dafür aber ich.
»Angst, Abbé? Wovor hat er Angst?«
»John, das ist eine lange Geschichte.«
»Deretwegen wir aber hier sind - oder?«
»Ist wohl so.«
»Dann will ich sie auch hören.«
»Ich habe auf ihn geschossen!« sagte der Gefangene und deutete mit dem Zeigefinger auf mich.
Bloch bekam große Augen. »Stimmt das? Ich habe keinen Schuß gehört.«
»Schalldämpfer«, sagte ich, zog die Waffe aus dem Hosenbund und zeigte sie dem Abbé.
»So ist das.«
»Es war ein Mordversuch.«
Der Abbé schwieg. Ziemlich lange für meinen Geschmack. Da war er bestimmt dabei, gewisse Gedanken zu wälzen. »Ja«, bestätigte er meine Aussage, »es war auch ein Mordversuch.«
»Toll, daß du es auch so siehst.« Bloch hob die Hand. »Nicht ganz. Ich denke, daß Joseph Lacombe einen Grund gehabt hat.«
»Zu töten?« Ich starrte den Abbé an wie einen Fremden.
Der Templer-Führer blieb ernst. »Er wäre nicht der erste, der getötet würde. Und deshalb, John, habe ich auch Suko und dich kommen lassen.«
In mir stieg die Wut hoch. »Wäre es dann nicht an der Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen?«
»Das denke ich auch.«
»Dann bitte.«
»Aber nicht hier.« Er deutete auf den Gefangenen. »Seine Lage ist unwürdig. Nimm ihm die Handschellen ab. Wir sollten uns in seinem Zimmer
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