0871 - Der silberne Tod
hatten.
Joseph sprach. Er redete leise. Ich konnte die Worte nicht verstehen, ging allerdings davon aus, daß er um Gnade bat. Da war er bei dem knöchernen Rächer genau an der falschen Adresse. Der würde ihm nicht die Spur einer Chance geben.
Ich mußte noch näher heran. Der Boden war mit Staub und Sand bedeckt. Ich schmeckte das Zeug bereits auf den Lippen. Bevor ich den flachen Hang erreichte, der zum Graben und zur Straße hinführte, blieb ich auf dem Bauch liegen.
Zwar sah ich das Skelett, aber nicht alles. Ich mußte auch herausfinden, was mit dem ehemaligen Templer passiert war. Ich konnte mir auch vorstellen, daß er auf die Knie gefallen war.
Wieder schob ich mich weiter. Staubige Gräser kitzelten mein Gesicht, das aber hatte ich bald überstanden, und endlich fiel mein Blick hinab auf die Straße.
Ich hatte mich nicht geirrt, aber was ich sah, das gefiel mir überhaupt nicht.
Joseph kniete auf der Straße. Der knöcherne Rächer stand da wie eine Gestalt, in der sich Vergangenheit und Zukunft trafen. Die Mündung berührte den Kopf des ehemaligen Templers.
Joseph zitterte. Er hatte Todesangst. Hector de Valois hatte noch nicht abgedrückt, aber der rechte Knochenfinger umschloß bereits den Abzug des Revolvers.
Sekunden höchstens würde es noch dauern.
Da sprach ich ihn an. Es war eine letzte Chance, ein verzweifeltes Bemühen. »Warte noch, Hector…«
***
Nein, ein Skelett konnte nicht erstarren, es war schon starr genug, aber mir kam es so vor, als wäre es erstarrt, denn meine Stimme hatte ihn als scharfes, vom Wind getragenes Flüstern erreicht, und ich erkannte auch an der Haltung seines Kopfes, daß er doch ein wenig durcheinander war.
Hatte er zuvor noch nach unten, auf den Delinquenten geschaut, so hob er nun den Kopf an, um schräg über den Graben hinwegzustarren, wo er mich vermutete.
Leere Augenhöhlen, die trotzdem sehen konnten, denn in ihm steckte eine Kraft, die ich nicht begriff.
»Nicht schießen!« sagte ich.
Er zögerte.
Das gab mir den Mut, mich wieder aufzurichten. Ich tat es nicht hektisch, sondern vorsichtig und langsam, ohne eine mißzuverstehende Bewegung. Ich hatte die Beretta nicht gezogen, denn ich wollte auf keinen Fall, daß Hector de Valois überreagierte.
Er hatte den Kopf gedreht. Trotz seiner leeren Augenhöhlen wirkte er so, als würde er mich anstarren, und das war möglicherweise auch der Fall. Ich merkte, daß sich zwischen uns so etwas wie ein Band aufbaute, daß wir Verbindung bekamen, und ich erkannte daran, wie oft ich meinem sogenannten Ahnherrn schon gegenübergestanden hatte. Dabei überlegte ich, was ich sonst gespürt oder gefühlt hatte bei diesen relativ seltenen Begegnungen. Es war immer etwas vorhanden gewesen, eine Verstrickung zwischen uns, die durchaus den Begriff Sympathie verdient hatte. Wir waren uns so gleich gewesen, denn auch Hector de Valois hatte einmal zu den Besitzern des Kreuzes gehört.
Nun aber gab es dieses Band nicht.
Zumindest nicht in dieser Form, wie ich sie kannte. Ich spürte zwar etwas und mußte es, so leid es mir auch tat, mit dem Begriff Feindschaft umschreiben.
Wir waren Gegner.
Hector und ich!
Verdammt, wieso? Was mußte in ihm vorgegangen sein, daß es dazu hatte kommen können? Bisher war das silberne Skelett für mich immer so etwas wie eine Hoffnung oder ein im Hintergrund liegender Trumpf gewesen, das aber war nun vorbei. Die Taten der verräterischen Templer mußten Valois ungemein gestört haben.
»Erschieße ihn nicht!« flüsterte ich. »Was immer er auch getan hat, welche Schuld er auch auf sich lud, er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Es gab andere Kräfte, die ihn in eine falsche Richtung geleitet hatten. Du selbst weißt, wie mächtig Baphomet ist.«
»Geh!« verlangte er.
Ich sprach normal, er aber meldete sich auf dem Weg der Telepathie. »Nein, ich bleibe.«
»Du hast nicht gehorcht!«
»Ich gehorche nie, wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten.«
»Dann muß ich dich töten!«
»Versuche es!«
Ich ärgerte mich selbst über meine Antwort, denn die Dinge waren nicht so gelaufen, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es war mir nicht gelungen, die Lage zu entspannen, das lag auch an der Sturheit meines schaurigen Gegenübers.
Was würde er tun?
Noch hatte ich meine Waffe nicht gezogen. Ich hoffte darauf, daß er es als positiv einschätzte, vielleicht war Hector de Valois doch noch auf den früheren Weg zurückzubringen. Irgendwo glaubte ich noch immer an das Gute im
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