0875 - Die Rückkehr des Jägers
verbarg. Nur die ledrigen, drachenähnlichen Schwingen auf dem Rücken der Schönen und die kleinen Hörner auf der Stirn störten das Bild.
Fasziniert starrten die beiden Brüder auf die gewaltige Oberweite der spöttisch lächelnden Rothaarigen, bis ihre Mutter hysterisch schrie: »Schaut nicht hin, das ist eine Versuchung des Teufels!«
Philippe Gautard war aufgesprungen und hielt der seltsamen Erscheinung sein silbernes Kreuz entgegen, das er immer an einer Kette um seinen Hals trug.
»Hinfort, du Trugbild des Teufels! Dies ist ein gottesfürchtiges Haus. Hier hast du nichts zu suchen.«
Doch die Schöne kicherte nur spöttisch: »Trugbild? Ich fürchte, da irrst du dich, Gottesmann.«
»Ich habe gesagt, hinfort mit dir, Konkubine des Satans!«
Mit aufreizender Langsamkeit umrundete die Rothaarige den Tisch. Hinter Jules blieb sie stehen. Dem 17-Jährigen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ihm die dämonische Schönheit die nackten Brüste gegen den Rücken presste. Sie ließ ihre Zunge lasziv über die Lippen gleiten, während sie mit der rechten Hand sanft über den Kopf des erstarrten Jungen strich. »Konkubine? Du unterschätzt mich. Außerdem, wer hat dir gesagt, dass der Teufel ein Mann ist?«
»Ich höre nicht auf deine Lügen. Pack dich, Satansweib! Hier hast du nichts verloren!«
Lächelnd beugte sich die Rothaarige vor und leckte mit der Zunge über Jules' rechtes Ohr. »Willst du auch, dass ich gehe, mein Kleiner?«
»Ich… ich…«, stotterte Jules, doch sein Vater übertönte ihn. »Vade retro satanas!«
»Oh je, ich sehe schon, du bist ein harter Brocken, Menschlein. Ich habe mich übrigens noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Stygia.«
»Stygia?«, keuchte Philippe Gautard. »Die Herrin des Todes? Die-Vernichterin der Seelen?«
Ein diabolisches Lächeln umspielte die Lippen der Geflügelten. »Ich sehe, du hast schon von mir gehört.«
»Was willst du von uns?«
»Nur eine kleine Rechnung begleichen. Die Seele, die du heute gerettet hast, gehörte mir«
Jacques , durchfuhr es Paul. Es stimmte also doch. Der alte Mann war mit dem Teufel im Bunde gewesen. Sein Vater hatte seine unsterbliche Seele gerettet, und jetzt kam der Teufel, um sich zu rächen. Auch wenn sich der Elfjährige den Leibhaftigen nicht annähernd so verführerisch vorgestellt hatte.
»Weißt du, dass Jacques einst ein Mann Gottes war, genau wie du?«
»Er hat es mir erzählt.«
»Einer der Frömmsten der Frommen. Bis ich ihm die Wunder dieser Welt gezeigt habe. Ich gab ihm Frauen, habe ihn reich gemacht und dafür nur einen bescheidenen Preis verlangt - seine Seele.«
»Er hat euren Pakt aufgekündigt, Hexe, und zurück in die Arme des Herrn gefunden.«
Stygias Lachen klang glockenhell. »So einfach geht das nicht. Du meinst, nur weil er sich im Angesicht des Todes an deiner Schulter ausgeweint hat, ist er erlöst?«
»Er ist heute Abend friedlich gestorben. Seine Seele ist gerettet.«
»Mag sein«, sagte Stygia, und plötzlich klang ihre Stimme drohend und gefährlich. Jules versuchte, sich ihrer Umarmung zu entziehen, doch die Dämonin hielt ihn mit eisernem Griff fest.
»Du hast mir genommen, was mir gehört. Deshalb nehme ich jetzt dir etwas. Deine Familie. Und deinen Glauben!«
»Das kannst du nicht!«, schrie Philippe Gautard.
»Glaubst du?« Die Hand der Dämonin bewegte sich so schnell, dass es mit dem bloßen Auge kaum zu sehen war. Wie ein Rasiermesser durchschnitt der spitze Nagel ihres Zeigefingers Jules' Kehle. Der Junge starrte ungläubig auf die Blutfontäne, die vor ihm auf den Tisch spritzte, dann brach er leblos zusammen.
»Nein!«, schrie Pauls Mutter. Sie wollte sich auf Stygia stürzen, doch mit einem Schlag ihrer Schwingen warf die Dämonin sie zurück.
»Glaub mir, Muttchen, du wirst deinen Sohn noch beneiden. Er hat es hinter sich. Was auf euch wartet, ist sehr viel schlimmer.«
Durch den Tränenschleier nahm Paul wahr, wie die Luft wieder in Bewegung geriet. Sie schien sich zu kräuseln, als sich ein neuer Wirbel bildete. Einen Lidschlag später hatte sich die Umgebung völlig verändert. Das vertraute Esszimmer war verschwunden. Stattdessen befanden sie sich in einem albtraumhaften Raum mit rot glühenden Wänden. Flammen züngelten über den Boden und von überall her ertönten infernalische Schreie.
Sie waren in der Hölle.
***
Vor sechs Monaten
Es war kalt geworden. Die wenigen Besucher, die sich nach Einbruch der Dunkelheit noch auf dem Friedhof Père Lachaise
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