0881 - Das Kind der Mumie
Schluck, bevor er die Tasse behutsam wieder abstellte.
Nach diesen Schlucken lehnte sich der Junge tief in den Sessel zurück und strich wieder über sein Gesicht. An der Stirn verweilten die Hände, als wollte er seine Gedanken sammeln. Dann schaute er Shao an.
Die hatte in seiner Nähe ihren Platz gefunden, so daß sie, ohne sich anstrengen zu müssen, seine Hand berühren konnte. »Du hattest uns versprochen, Kinok, etwas über deine Herkunft zu berichten. Wir haben hier Ruhe, es wird uns niemand stören, und ich denke, daß es jetzt der richtige Zeitpunkt ist.«
»Ja, das glaube ich auch.«
»Schön. Ist es dir lieber, wenn ich die ersten Fragen an dich richte? Du kannst dir vorstellen, daß auch ich Probleme habe.«
»Warum?«
Sie hob die Schultern. »Nun ja, ich habe mich schon gewundert, daß du dich mir gegenüber so verbunden gefühlt hast. Du bist plötzlich erschienen und hast mir das Leben gerettet. Ich habe mich zu dem Zeitpunkt gefragt, ob das aus einer Laune heraus geschehen ist, was ich jetzt allerdings bestreite. Es war wohl keine Laune.«
»Das stimmt.«
»Was war es dann?«
Shao hatte eine Frage gestellt, auf deren Antwort auch Suko und ich sehr gespannt waren.
Kinok überlegte. »Wenn du es wissen willst, dann schau bitte in meine Augen.«
»Das tue ich. Sie sind golden.«
»Sehr richtig. In der Unendlichkeit des Himmels gibt es einen Planeten, der ebenfalls golden schimmert. Er bringt der Erde das Licht, er läßt Pflanzen und Tiere ebenso gedeihen wie die Menschen. Dieser Planet ist das Leben, den du kennen mußt.«
»Die Sonne!« antwortete Shao spontan.
»Genau, die Sonne.«
»Und weiter?«
»Ich spüre die Verwandtschaft zwischen dir und mir. Du hast etwas mit der Sonne zu tun. Auch ich liebe die Sonne. Sie verbindet uns beide. Was ist das?«
»Es ist die Sonne«, wiederholte Shao nickend. »Sie ist hell, sie ist freundlich. Sie vertreibt die Schatten der Nacht. Sie ist das Symbol des Lichts und des Lebens. Sie liefert den Menschen Seele, im Gegensatz zum Mond, der dem Menschen die Psyche gibt. Sie ist für manche so etwas wie ein Gott, aber kein dunkler, böser, auch kein Götze, sondern etwas Helles und Strahlendes.«
Bei Shaos Worten war Kinok unruhig geworden. Seine Antwort bestand aus einem heftigen Kopfschütteln, als könnte er sich auf keinen Fall mit diesen Worten identifizieren.
»Was hast du?«
»Es stimmt nicht.«
»Doch, die Sonne ist das Leben!«
Plötzlich - wir wurden alle davon überrascht - bäumte sich Kinok auf. Wieder verschwand das goldene Licht aus seinen Augen. Er öffnete den Mund. Speichel lief an seinem Kinn entlang. »Nein, nein, nein!« schrie er. »Die Sonne ist nicht gut. Sie ist es nicht!«
Er schlug mit den Armen um sich, drosch seine Fäuste auf die Sessellehnen, und natürlich wollten Suko und ich eingreifen, aber Shao stoppte uns mit einer heftigen Bewegung. Sie übernahm es, sich um den Jungen zu kümmern.
Er war in seinem Sessel zusammengesunken. Den Kopf hatte er zurückgelegt, auf der Stirn schimmerte der Schweiß, die Lippen zitterten. Zuerst wollte er sich nicht von Shao berühren lassen, denn sein Arm zuckte zurück, als Shao ihn anfaßte. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, sich schließlich zur Seite drückte und gegen Shao lehnte, als suchte ein Kind die Nähe seiner Mutter.
Suko und ich schauten uns an. Wir schwiegen, ein falsches Wort hätte zu leicht stören können, doch in Sukos Augen las ich, daß er den Vorgang ebensowenig begriff wie ich. Was hier passiert war, konnten wir einfach nicht nachvollziehen, obwohl ich es zumindest versuchte.
Ich dachte an die ägyptische Mythologie und natürlich an den Sonnengott Ra, der sehr verehrt worden war, so sehr, daß die Pharaonen als seine irdischen Vertreter angesehen wurden, aber ich konnte an dieser Gottheit nichts Schlechtes finden. Möglicherweise wußte ich es auch nicht genau und würde von Kinok bald eines Besseren belehrt werden. Jedenfalls gab mir sein Verhalten schon Rätsel auf, und meinem Freund Suko erging es um keinen Deut anders.
Shao hatte mit ihm eine Engelsgeduld. Sie streichelte sein Haar und seinen Nacken. Die Berührungen taten ihm gut. Das Zittern schwächte sich ab und war schließlich ganz verschwunden. Kinok drückte seinen Körper zur Seite und drehte sich so, daß er uns wieder anschauen konnte.
»Geht es dir besser?« fragte Shao.
»Ja, besser.« Er starrte ins Licht. Diesmal glänzten seine Augen wieder goldfarben, aber ich
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