0885 - Die Kralle des Jaguars
schlanker Statur. Sie trug einen weiten und bodenlangen, bunt gemusterten Rock und eine helle Bluse aus Leinen. Ihren Kopf zierte, neben den beeindruckend großen goldenen Ohrringen, ein nicht minder buntes Tuch, das von einer großen Schleife zusammengehalten wurde. Sie sah aus wie das wandelnde Klischee einer Honduranerin und hätte jeden Reiseführer-Fotografen begeistert. Aber dennoch war etwas an ihr, das Nicole noch nicht einordnen, ja nicht einmal benennen konnte. Sie sah… irgendwie zeitlos aus. Sie war nicht alt, doch sie hätte auch im letzten Jahrhundert sicher keinen ungewöhnlichen Eindruck gemacht. Und überhaupt gab es noch einen Punkt, der Nicoles Misstrauen schürte: Welche Sorte Mensch hielt sich schon einen waschechten Jaguar als Haustier?!
»Mein Name ist Morgana Fatima«, stellte die Dame sich vor. »Was kann ich für Sie tun?« Zamorra schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Mein Name ist Zamorra, das ist meine Assistentin Nicole Duval. Verzeihen Sie die Störung, Señora; wir sind Wissenschaftler aus Europa und arbeiten gerade an einem Buch über die Subkulturen dieses Landstrichs.« Er log wie gedruckt. Auch wenn sie das gewohnt war, musste Nicole sich beherrschen, um ihr Pokerface nicht zu verlieren.
»Uns ist die rituelle Kennzeichnung ihres Hauses aufgefallen«, fuhr ihr Partner fort und wies auf die noch immer auf der Schwelle stehende Kerze, »und da haben wir uns gefragt, ob es sich bei diesem Gebäude etwa um einen Voodoo-Tempel handeln mag. Wissen Sie, wir sind nämlich auf der Suche nach interessanten Gesprächspartnern.«
Nicole glaubte ihren Ohren kaum. Okay, wenn sie uns jetzt nicht zum Teufel jagt, hetzt sie sicher wieder ihre Mieze auf uns . Zamorra spielte hier den Gipfel der Naivität und erwartete ernsthaft, damit durchzukommen? Zwei Autoren auf der Suche nach Voodoo-Interviewpartnern? !
Einen Moment lang schwieg die Honduranerin. Sie schien nachzudenken und löste dabei ihren Blick nicht von Zamorras Gesicht. Doch der Parapsychologe hielt ihrem Blick stand. Nicole rechnete schon damit, dass er nun eine böse Abfuhr erhielt, da lächelte die Einheimische plötzlich und trat zur Seite. »Aber natürlich«, sagte sie, und ihre Stimme klang aufrichtig freundlich. »Bitte kommen Sie doch herein. Ich habe frischen Kaffee gemacht, dabei können wir uns gerne unterhalten.«
Zamorra zögerte keine Sekunde und trat ins Gebäude, Nicole folgte ihm widerwillig. Das ging ihr alles ein wenig zu reibungslos, zu einfach vonstatten. Außerdem gefiel ihr Señora Fatima nicht. Wo wohl der Jaguar abgeblieben war?
Sie kamen in einen schlichten, spärlich möblierten Raum, der recht improvisiert wirkte, als hätte ein Trupp Heimwerker heute früher Feierabend gemacht. Die Wände waren kaum verputzt und gaben den Blick auf unregelmäßig gemauerte Backsteinreihen frei, und auch die kalten Bodenplatten vermittelten nicht gerade ein heimeliges Gefühl. Zwei Türen gingen in Nebenräume, eine davon war ausgehangen und der Durchgang mit einem schweren Vorhang aus Stoff bedeckt. Durch eine offen stehende Terrassentür fiel warme Mittagssonne hinein.
Ihre Gastgeberin schloss die Haustür und schritt durch den kleinen Raum auf den Vorhang zu. » Vámonos , folgen Sie mir.« Während Nicole Zamorra ins Nebenzimmer folgte, fiel ihr Blick durch die Glastür ins Freie. Auf einer kleinen Terrasse stapelten sich die unterschiedlichsten Gegenstände. Sie sah Kerzenständer, gusseiserne Schalen und mehrere Fläschchen mit unbekanntem Inhalt. Selbst einige kunstvoll verzierte Trommeln waren zu sehen. Nach allem, was Nicole über Voodoo wusste, handelte es sich bei dem Sammelsurium um die Überreste einer kleinen Zeremonie. Volltreffer! Scheint, als wäre Morgana noch nicht zum Aufräumen gekommen, dachte sie und schmunzelte.
***
Der Laden lag in der Avenida Marina Nacional in Mexiko City und stank nach Frittenfett und Burgern - Überbleibseln der Imbissbude, die im Vorzimmer beherbergt war und seit Jahren die Touristen durchfütterte, welche sich in diesen Teil von Mexico City verirrten. Einheimische - insbesondere an gewissen südamerikanischen Riten interessierte Einheimische - kannten »Guillermo's Burger-Bonanza« aber vor allem wegen seines Hinterzimmers, in dem sich eines der bestsortiertesten Geschäfte für Voodoo-Zubehör in ganz Mexiko befand.
Im trüben Licht nackter Glühbirnen, die von einer fleckigen Zimmerdecke herabhingen, blickte Elian Rodrigo über die prall gefüllten Regale und
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