0885 - Die Kralle des Jaguars
jetzt wieder Zamorra zuwandte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Professor. Zweigeteilte Welt? Was können Sie nur damit meinen?«
»Na ja, nehmen Sie nur mal diesen Ort, Puerto Cortés«, erwiderte der Franzose. »Auf der einen Seite haben Sie hier den wohl modernsten Hafen in ganz Südamerika, sind also ein wichtiger Industrie- und Wirtschaftsstandort. Auf der anderen Seite ist Honduras aber auch ein Land der Geschichte. Von den Ruinen von Copán bis zu den faszinierenden Voodoo-Ritualen und -Traditionen. Wie passt das zusammen? Wie lebt es sich mit einer solchen, umfassenden Identität?«
Nicole kannte ihren »Chef« lange genug, um mit dieser Masche vertraut zu sein. Er gab sich bewusst ein wenig einfältig und nicht sehr versiert, stellte offene, unpräzise Fragen, um sein Gegenüber erst einmal zum Reden zu bringen und in Sicherheit zu wiegen. Hätte Zamorra wirklich ein Interesse an der »nationalen Identität« von Honduras gehabt, hätte er diese wohl kaum mit einer schrulligen (alten?) Voodoo-Priesterin aus der 11 a Avenida diskutiert, sondern wäre gleich zu Soziologen oder Politikern gegangen. Er wollte über die Mayas reden und hoffte wahrscheinlich, dass »Mama Morgana« in Plauderlaune geriet und von sich aus zu erzählen begann.
Und wie sie erzählte! Morgana war offenbar dankbar, so interessierte Zuhörer vor sich zu wissen, und setzte, die Hände in den Schoß gelegt, zu einem Monolog über die kulturelle und religiöse Geschichte dieser Region an. Sie sprach von Itzamná, einem der bedeutendsten Maya-Götter, vom Maisgott Uaxac Yol Kauil, den afrikanischen Wurzeln des Voodoo und wie sich das alles im Lauf der Jahrhunderte vermischt hatte. Sie erwähnte Hernando Cortés und seine Folgen für die Zivilisation Südamerikas, sprach von Orichas und und und. Nichts von dem, was sie den beiden Europäern auftischte, hätte man nicht auch irgendeiner Bibliothek entnehmen können, und doch war Nicole überrascht, wie umfassend und themenübergreifend die Kenntnisse der Priesterin waren. Sie schien sich wirklich mit ihrer Aufgabe als Voodoo-Vertreterin zu identifizieren - und darüber hinaus ein nicht zu verbergendes Mitteilungsbedürfnis zu haben.
Zamorra, der irgendwann in seine Gesäßtasche gegriffen, ein abgewetztes Notizbuch hervorgezogen hatte und dazu übergegangen war, sich Stichworte zu notieren, nickte in geheucheltem Interesse. »Es gibt einen Aspekt der hiesigen Mythologie, der mich schon immer fasziniert hat«, sagte er, als die Señora einen Gedankengang beendet hatte. Er lächelte und schenkte ihrer Gastgeberin seinen unfehlbaren Dackelblick, wie Nicole amüsiert feststellte. Sie kannte diesen Blick nur zu gut; er täuschte Harmlosigkeit vor und war doch der Vorbote für einen entscheidenden Vorstoß. Zamorra versuchte allmählich, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken.
»Und was wäre das?«, fragte Morgana und sah ihn interessiert an.
»Die Wiedergänger.«
Wiede… Abermals musste Nicole sich beherrschen, um ihre Tarnung nicht durch eine unbedachte Reaktion auffliegen zu lassen. Wiedergänger?! Das war in der Regel einfach ein anderes Wort für Zombies. Schnell rief sie sich ins Gedächtnis, was sie mit dem Begriff verband. Als ›Wiedergänger‹ bezeichnete man im Voodoo Menschen, die auf magische Weise ihr Leben verlängerten und dabei, zumindest in manchen Varianten der Legende, zu Zombies wurden. Meist wurde die Ausdehnung der eigenen Lebenszeit durch die rituelle Opferung anderer Wesen möglich gemacht, deren Lebensenergie dann - nicht zuletzt dank der Gnade des Geistwesens, dem diese Opfer gebracht worden waren - auf den Wiedergänger übertragen wurde. Wie um alles in der Welt kam ihr Chef denn jetzt auf Wiedergänger?
Ein Blick in Morganas Gesicht gab ihr die Antwort - und plötzlich hätte sich Nicole schlagen können, weil sie nicht sofort drauf gekommen war. Er spielte auf das Opferritual aus McArdbegs Reisebericht an! Zwar waren die Darstellungen und Beschreibungen von Wiedergängern und den zugehörigen Voodoo-Zeremonien so zahlreich wie uneinheitlich, doch… eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht verleugnen.
Die Priesterin spielte ihre Rolle gut, das stand außer Zweifel, aber die direkte Frage des Europäers hatte sie - wenn auch nur für einen Moment - spürbar aus dem Konzept gebracht. Ihre Reaktion dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, reichte jedoch aus, um Nicole spüren zu lassen, dass Zamorra ein sensibles Thema
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