0885 - Die Kralle des Jaguars
sogar im Rathaus gewesen - und noch immer keinen Schritt weiter. Selten zuvor hatte sich Zamorra derart frustriert gefühlt. In Mexico City lag Javier Montejo im Koma, und alles was der Franzose bisher zur Rettung des südamerikanischen Hochschuldozenten vorweisen konnte, war ein Sonnenbrand, den er sich bei seinen tagelangen Streifzügen durch die Hafenstadt zugezogen hatte, in der einst Connor McArdbegs Expedition ins Unbekannte gestartet war. Ein Sonnenbrand, und sein Instinkt, der ihm trotz allem noch immer das Gefühl vermittelte, auf der richtigen Fährte zu sein.
Entschlossen zahlte Zamorra seinen Kaffee und machte sich wieder auf den Weg. Es war absurd, sich allein aufs Bauchgefühl zu verlassen, das wusste er nur zu gut. Alle Fakten sprachen dagegen. McArdbegs Bericht nannte Copán als Ort allen Übels, und was auch immer mit Montejo geschehen war, hatte ebenfalls in den Ruinen der alten Maya-Kultur stattgefunden. In Puerto Cortés hatte er nur kurz gelebt, um seine Expedition zusammenzustellen und auszustatten. Eigentlich war genau das der Grund, warum Zamorra hier suchen wollte. MacArdbeg hatte seine Pensionswirtin Madame Golden Rose hier kennengelernt und war ihr dann in Copán wieder begegnet.
Es musste richtig sein, hier nach den Gründen von Montejos Zustand und vielleicht auch den für MacArdbegs Geistesverwirrung zu suchen. Es war auch absurd, aber im Laufe der Jahre hatte Professor Zamorra gelernt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Und keine Fragen zu stellen, die er ohnehin nicht zufriedenstellend beantworten konnte. Sie waren hier richtig, es musste einfach so sein.
Er befand sich gerade auf der 11a Avenida, einer kleinen Querstraße außerhalb des Stadtzentrums. Hier zeigte sich die Hafenstadt allmählich von ihrer wahren, ungeschminkten Seite. Wo nur wenige Straßen weiter noch Burger Kings, klimatisierte Supermärkte und städtische Infrastruktur das Bild des Ortes prägten, vermittelten die nach Norden und zur Playa Costa Azul führenden Avenidas doch eine ganz andere Atmosphäre. Nicht nur, dass das Verkehrsaufkommen - im Stadtkern und in Hafennähe von beeindruckendem Ausmaß - deutlich abgenommen hatte. Auch die Menschen schienen hier andere zu sein. Das geschäftsmäßige, westliche Flair der Calle oestes und Calle estes wich nach und nach einer gemäßigteren, trägeren Ruhe, die Zamorra nur recht sein konnte. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, während er an den überwiegend weiß verputzten, mehrstöckigen Wohnhäusern und gelegentlich auftretenden, kleinen Bistros und Läden entlangging, welche die 11a Avenida auszeichneten.
Es ging auf die Mittagszeit zu, und die Tische der hiesigen gastronomischen Einrichtungen füllten sich zusehends. Trotz der Nähe zum Stadtzentrum glaubte Zamorra hier doch eine andere Klientel zu erkennen. Was dort auf den Terrassen und hinter den geöffneten Fenstern der Lokale Platz nahm, war nicht das touristische oder geschäftliche Antlitz der Stadt. Es war das wahre Puerto Cortés, ungeschminkt und ehrlich.
Vielleicht sollte ich Nicole anrufen und mich mit ihr zu einem kleinen Imbiss verabreden, dachte Zamorra, während der Duft der karibischen Küche, Früchte, Fisch und starke Gewürze, aus allen Richtungen auf den Gehsteig drang und seine Nase verzauberte. Wie er, war auch seine Gefährtin gerade wieder unterwegs und durchstreifte die Straßen der Stadt auf der Suche nach Zeichen einer Voodoo-Familie. Vier Augen sahen mehr als zwei; erst recht, wenn sich diese Augen in verschiedenen Gegenden bewegten.
Die Straße war kurz, und Zamorra wollte schon wieder kehrtmachen und zurückgehen, da fiel sein Blick auf einen unscheinbar wirkenden Hauseingang, der ihm gerade nicht aufgefallen war. Er lag ein wenig verdeckt, von einer schlecht gepflasterten Toreinfahrt und unzähligen Kletterpflanzen verborgen, die trotz der heißen Temperaturen scheinbar prächtig an der Hauswand gediehen. Es war auch weniger der Eingang, der Zamorras Blick fesselte, sondern das, was dort auf der Türschwelle lag.
Als er näher kam, konnte er es deutlicher erkennen: Es handelte sich um eine kleine, brennende Kerze, vor der etwas Milchig-wässriges in der Sonne schimmerte. Zamorra ging in die Hocke und roch den dominanten Duft starken Alkohols. Das war Gin, kein Zweifel. Und diese Brühe dürfte einmal ein Ei gewesen sein. Bingo!
Wenn ihn seine Kenntnis der südamerikanischen Kultur nicht trog, fand in diesem kleinen Wohnhaus gerade eine Voodoo-Zeremonie statt.
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