0885 - Die Kralle des Jaguars
angeschnitten hatte. Ein Thema, mit dem die Señora Fatima nicht gerechnet hatte.
Señora Fatimas Aufmerksamkeit war nach wie vor auf Zamorra gerichtet, und so riskierte Nicole einen fragenden Blick auf ihren Gefährten, den dieser vorsorglich nicht beantwortete. Aber sie kannte ihn und konnte seinen Gesichtsausdruck ohne Worte deuten. Der Professor hatte Blut geleckt, einen Schuss ins Blaue gewagt und, zumindest seiner Ansicht nach, einen Treffer gelandet. Hielt er die Frau etwa selbst für eine Wiedergängerin?
Binnen eines Augenblicks hatte sich Morgana Fatima wieder gefangen und ihre geduldig-gutmütige Miene erneut aufgesetzt. Doch nun wusste Nicole mit Sicherheit, dass sie nur Fassade war. Was verbarg sich dahinter? Was wusste Zamorra - oder glaubte er zu wissen?
Auf einmal nickte die Frau mit dem bunten Kopftuch fest und entschlossen, erhob sich und ging zum Wandschrank, einem der wenigen Möbelstücke des Zimmers, die vermutlich zweimal so alt waren, wie sie aussahen. Sie öffnete eine Schublade, entnahm ihr einen Gegenstand und kehrte zum Tisch zurück. Es war ein Kartenspiel, wie Nicole jetzt sah, und mit ihm in der Hand blickte sie Zamorra lange an. Ausdruckslos, kommentarlos. Auch der Professor schwieg.
»Ich möchte Ihnen die Karten legen«, sagte Morgana plötzlich, und es war klar zu verstehen, dass es sich dabei um eine Feststellung handelte und keine Frage. Ohne Zamorra aus den Augen zu lassen, streckte sie den Arm aus und hielt ihm die Karten hin. Unter Nicoles ungläubigen Blicken ergriff der Franzose sie und begann zu mischen.
***
War es Überraschung oder sogar Mitleid, was Zamorra in ihren Augen las? Mama Morgana hatte ihm in völliger Stille die Karten gelegt, nur hin und wieder zu Erklärungen angesetzt, das Geschehen erläutert - doch je länger die Prozedur gedauert hatte, desto schweigsamer war sie geworden. Kein Wunder, bei der Ausbeute , wie der Professor amüsiert dachte. Was da auf der fleckigen Tischdecke lag, dargestellt durch abgewetzte und dennoch gepflegt wirkende, bunte Tarotkarten, war - sofern man dem Tarot Glauben schenken mochte - genug Leid und Abenteuer für fünf Leben. Und hier saß er, ein einzelner Mann, und brachte der Voodoo-Priesterin solche Ergebnisse. Fraglos hatte Mama Fatima schon oft jemandem die Karten gelegt. Und es war offensichtlich, dass sie dieses spezielle Ergebnis nicht kalt ließ. Sie vertraute den Karten, auch wenn sie kaum fassen konnte, was diese ihr sagten.
»Und nun die letzte, die Todeskarte«, flüsterte sie, und in ihrer tiefen Stimme war keine Spur von Theatralik, die man ihr vielleicht als Touri-Abzocke hätte ankreiden können, mehr zu spüren. Morgana hatte längst aufgehört, eine Rolle zu spielen, das war offensichtlich. Sie hing so gebannt an den Karten auf dem Tisch vor ihr, als beträfen sie ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Existenz. Aus den Augenwinkeln konnte Zamorra Nicole sehen, die dem Geschehen nicht minder konzentriert folgte. Hätte es nicht die Atmosphäre und ihre Tarnung zerstört, Zamorra hätte laut gelacht. Er zweifelte nicht an der Macht der Karten. Er wusste nur, dass sie ihm nichts mehr sagen konnten, was er nicht ohnehin schon über sich wusste.
Einzig Morgana Fatima wusste es nicht. Und sie schien die letzte Information, das letzte Blatt nur mit Widerwillen umzudrehen. Es war die Todeskarte, so viel stand fest. Und als sie schließlich lag, zog die Priesterin hörbar den Atem ein.
Der Sensenmann stand auf dem Kopf!
Wenn Zamorras Tarotkenntnisse ihn nicht trogen, stand dies für ein unüblich langes Leben. Wie gesagt, Mama, dachte er und sah die grenzenlose Überraschung auf Fatimas Zügen, das ist alles nichts, was ich nicht schon selbst längst gewusst hätte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er betont unschuldig und bewunderte sich selbst für sein Pokerface.
Die Honduranerin schluckte. »Ich muss Sie…«, sagte sie langsam und in einem Tonfall, den Zamorra nicht so recht einordnen konnte. Was musste sie; ihm ein langes Leben prophezeihen? Das wusste er ja, aber warum sollte ihr das schwer fallen?
Er hörte, wie Mama Morgana noch einmal tief Luft holte, dann hob sie den Kopf - und mit einem Mal war die alte Maske wieder da. Die freundliche, weltoffene Gesprächspartnerin, die gern einem westlichen Wissenschaftler über ihre Kultur Rede und Antwort stand. »Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Señor. Wo habe ich nur meine Manieren? Möchte noch jemand Kaffee?« Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob sich
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