0886 - Todesjagd
und zerfallener aus, und die Straßen besaßen noch mehr Schlaglöcher als früher. Die gesamte Umgebung wirkte so deprimierend, dass Angelique Tränen in den Augen standen.
Sie zögerte, als sie die Treppe betreten wollte, die hinab zu ihrer alten Wohnung führte. Doch das lag nicht daran, dass Dunkelheit herrschte und sie sich erst orientieren müsste. Notfalls hätte sie den Weg auch mit geschlossenen Augen gefunden.
Sie wollte erst wissen wie viele Menschen sich in der Wohnung befanden, bevor sie klingelte, und beobachtete die Fenster. Aber durch die heruntergelassenen Jalousien war nur gedämpftes Licht zu erkennen.
Angelique dachte kurz daran, wie sie hierher gekommen war. Den Wagen des getöteten José hatte sie wenige Kilometer später abgestellt und gegen ein neues Auto eingetauscht. Mit anderen Worten: Sie hatte einen zweiten Wagen gestohlen und auch diesen nur einen halben Tag lang gefahren.
Danach fuhr sie mehrere hundert Kilometer mit einem Trucker mit. Als der sie bedrängen wollte blieb ihr nichts anderes übrig, als auch von seinem Blut zu trinken. Sie wollte es eigentlich nicht, war schlussendlich aber nicht böse über den nicht eingeplanten Energieschub.
Über die Landesgrenzen gelangte sie stets in ihrer Gestalt als Fledermaus. Durch Mexiko und Texas ließ sie sich dann wieder von Truckern mitnehmen. Von San Antonio aus hatte eine kreolische Truckerin namens Sheila, die einen kaffeebraunen Peterbilt Conventional fuhr und über den Interstate Highway 10 Richtung New Orleans unterwegs war, sie mitgenommen. Angelique hatte noch nie ein so auffälliges Gefährt gesehen. Die Bemalung der Schlafkabine zeigte eine Dschungellichtung um einen Fluss herum und ein nacktes kreolisches Mädchen, das auf einem Alligator ritt, der eine Rose zwischen den Zähnen trug. Darüber hatte der Airbrush-Künstler den Schriftzug Louisiana-Lady in geschwungener Metallic-Schrift gelegt. Unter dem Bild prangte ein großes RTC mit der Schrift Rockford Trucking Company, wahrscheinlich war das der Name des Fuhrunternehmens.
Die etwa 45-Jährige Kreolin hatte ihr mit ihrem Gerede fast die Ohren abgekaut. Sie war zwar sehr sympathisch, aber dafür, dass sie sich erst kennengelernt hatten, auch außergewöhnlich gesprächig gewesen. Angelique nahm an, dass das an der Einsamkeit als Fahrerin lag.
»Seltsam, du erinnerst mich an jemand«, hatte Sheila gesagt. »Vor etwa 18 Jahren habe ich jemand mitgenommen, der deine Augenpartie hatte. Der Typ hatte meinen Truck geklaut und mir damit das Leben gerettet. Seinen Namen und sein Aussehen werde ich nie vergessen. Er nannte sich Ombré… Als ich ihn fragte, wohin er will, antwortete er: Jede Richtung ist meine. Es kommt nur auf die Entfernung an. Stell dir das mal vor…«
Angelique hatte es in diesem Augenblick fast nicht mehr im Peterbilt ausgehalten. Viele tausend Trucker verkehrten jeden Tag auf der Interstate 10, der Verbindungsstraße zwischen Atlantik und Pazifik - und ausgerechnet auf die eine Fahrerin, die Yves kannte, musste sie treffen. Angelique hatte geschickt vom Thema abgeschweift und sich danach über Sheilas Erzählungen amüsiert.
Bei der nächsten Rast hatte sie dann den Truck gewechselt, unter anderem um ihre Spuren zu verwischen. Sie war nicht so naiv anzunehmen, dass ihr niemand folgen würde.
Verdammt, reiß dich zusammen, beschwor sie sich, als sie immer noch zögerte, von den Jalousien wegzugehen, vor die Eingangstür zu treten und zu klingeln. Sie verdrängte die Erinnerung an ihr herkommen und konzentrierte sich auf die Gegenwart.
Die Haustür war relativ neu; da Angelique ihren Schlüssel schon lange nicht mehr besaß, würde sie nur auf dem offiziellen Weg hineinkommen. Sie drückte die Klinke leicht herunter und bemerkte enttäuscht, dass von innen verschlossen war.
R. Dean Taylor stand auf dem Schild neben dem Klingelknopf.
Erst nach dem dritten Klingeln wurde die Tür geöffnet. Ein korpulenter, müde dreinschauender Mann Mitte vierzig schaute sie missmutig an. Der Schwarze trug einen Stoppelbart und hatte fettige schwarze Haare. Auf den zweiten Blick bemerkte Angelique, dass die Haare gegelt waren.
»Was'n los?«, wollte der Mann wissen und furchte die Stirn. Er verbreitete einen Geruch nach Alkohol und Zigarettenrauch um sich. Kein Wunder, in der Linken hielt er eine große Dose Coors-Bier.
»Mister Taylor?«, fragte die Vampirin und bemühte sich, die Mundwinkel nicht zu weit auseinander zu ziehen. Sie spürte, wie die Augzähne wieder
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