0889 - Eishauch des Todes
riss sie aus den düsteren Überlegungen.
Zielobjekt.
So nannte sie ihre Opfer schon seit langem. Es half, die jungen Frauen rein auf ihre Funktion zu beschränken und sie nicht als Individuen mit eigenem Leben anzusehen.
Wie stets, wenn sie Blickkontakt hergestellt hatte, verschwand jenes magische Band, das sie lockte und leitete. Wenn sie sich den Lebensfunken dieses Menschen aneignete, würde sie sich optisch weiter angleichen und damit ihr eigenes Aussehen perfektionieren. Genau wie die letzten neun Mal. Hoffentlich würde es dieses Mal das letzte Mal sein.
Als sie sich vor Wochen ihrer selbst bewusst geworden war, war sie eine rohe, unfertige Puppe gewesen, nicht mehr als ein geschnitzter Holzblock, dem menschliche Grundform verliehen worden war.
Sie dachte nicht gern an diese Zeit zurück. Das stieß sie noch mehr ab als die Vorstellung, was sie gleich zum wiederholten Mal tun würde. Wie ungelenk war sie damals gewesen, wie plump… und wie sehr hatte ihr erstes Opfer damals geschrieen, für eine Sekunde lang… nur so kurz, und doch hatte sich dieser Laut für immer ins Gedächtnis ihrer Mörderin gebrannt.
»Guten Tag«, sagte sie zu der jungen Frau.
Diese drehte sich um, dass die blonden Haare wehten. Eine Strähne blies sie sich aus dem Gesicht. Die blauen Augen weiteten sich. »Das gibt's ja gar nicht… Sie - Sie sehen ja aus wie ich, wenn…« Sie räusperte sich.
»Wenn was?«
»Vergessen Sie's. Ich - ich mein nur… ihre Nase, da hatten Sie wohl einen Unfall. Entschuldigen Sie, es ist sicher nicht gerade schön, darauf angesprochen zu werden.«
»Kommen Sie mit«, forderte die Puppe.
»Wieso…« Die Pupillen des Opfers wurden mit einem Mal eigenartig starr. Die Mundwinkel hingen schlaff herab. Eine knappe Abwehrbewegung stockte.
Die Puppe drehte sich um. Sie musste sich nicht vergewissern, dass ihr das Opfer folgte. Wie auch immer diese magische Kraft funktionierte - sie erfüllte ihren Zweck.
Willenlos folgte das Opfer seiner Mörderin und lief genau in seinen Tod.
***
Pierre Robin schmeckte noch das bittere Aroma des doppelten Espressos. Er hasste diesen Geschmack, aber viele seiner Kollegen schworen Stein und Bein, dass sie nur dadurch morgens überhaupt noch aus dem Bett kamen. Er betrat die Zelle, in der Jacques Leclerque die letzten Stunden verbracht hatte.
Der Bruder des Ermordeten und vermeintliche Killer sah aus wie ein Häufchen Elend. Er saß mit angezogenen Knien an der Wand, die Augen funkelten. »Sie verzeihen, wenn ich nicht aufstehe«, presste er heraus. »Ich habe keine Ahnung, mit wie vielen von euch ich schon geredet habe. Es macht keinen Sinn… ich habe meinen Bruder nicht umgebracht, kapiert?«
»Das weiß ich«, sagte Robin. »Ich möchte Ihnen eine ganz andere Frage stellen und Sie dann freilassen.«
Jacques kicherte. »Was ist denn das für ein Trick?«
»Kein Trick. Was haben Sie gesehen, als ihr Bruder starb? Sie sprachen von einem Doppelgänger - gab es sonst noch etwas Ungewöhnliches? Vielleicht etwas, das Sie bisher verschwiegen haben, weil Sie glaubten, wir würden Ihnen ohnehin keinen Glauben schenken?«
Nun kam Leben in die zusammengesunkene Gestalt. Leclerque erhob sich. Seine Hände zitterten. »Nichts. Gar nichts. Man hat meinem Bruder den Kopf weggeschossen, reicht das nicht? Wenn Sie wissen, dass ich unschuldig bin, dann lassen Sie mich… lassen Sie mich raus.«
Chefinspektor Pierre Robin kannte den Ausdruck in den Augen des Mannes vor ihm nur zu gut. Das war ein verzweifeltes, in die Enge getriebenes Tier, das nichts anderes mehr wollte als den nächsten Schuss. »Wie lange haben Sie schon keine Drogen mehr genommen? Entzug ist die Hölle, was?«
Leclerque lachte gekünstelt. »Drogen? Wie kommen Sie darauf? Ich bin so clean wie ein Babypopo.«
»Und genauso voll Scheiße, was?«
Jacques' Lippen bebten.
»Nun sagen Sie es schon«, forderte Robin.
»Was?«
»Dass Sie Hilfe brauchen. Kämpfen Sie, Mann, und diese ganze Geschichte hat für Sie wenigstens noch etwas Gutes.«
Einen Augenblick lang schien Jacques Leclerque weich und verletzlich, doch dann schüttelte er den Kopf. »Darf ich jetzt gehen? Ich bin der Meinung, dass man mich lange genug ungerechtfertigt festgehalten hat. Oder muss ich erst meinen Anwalt…«
»Nicht nötig«, unterbrach Robin. »Gehen Sie. Und reden Sie nicht von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben.« Er zog eine Visitenkarte. »Wenn Sie es sich anders überlegen, rufen Sie mich an. Sie wären nicht der
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