0889 - Eishauch des Todes
die Mordkommission an diesem Ort ihre Arbeit bereits getan hatte, ließ nichts mehr erahnen. Erst als Zamorra einige Schritte vorging und den Boden absuchte, fand er das, wonach er gesucht hatte: Blutspuren.
»Dann wollen wir mal«, murmelte Zamorra und sah auf die Uhr.
Siebzehn Uhr und sechsunddreißig Minuten.
Laut des Polizeiberichts hatte sich der Mord gestern um neunzehn Uhr und zehn Minuten ereignet.
Das hieß, er lag wenig mehr als zwanzig Stunden zurück. Mit der Zeitschau so weit in die Vergangenheit zu blicken, würde eine Menge Kraft erfordern - falls es überhaupt gelang.
Zamorra versetzte sich selbst in eine Halbtrance. Das Bild seiner Umgebung entstand in seinem Geist, obwohl er die Augen schloss. Er raste in der Zeit zurück. Plötzlich erfüllten Menschen das Bild - Polizisten.
Dafür interessierte sich Zamorra nicht. Weiter zurück…
Die Polizisten verschwanden wieder… dann war André zu sehen. Er tappte rückwärts ins Bild, einen Müllsack über der Schulter, stand dann fassungslos gaffend vor dem Toten.
Zamorra stöhnte unter der geistigen Anstrengung. Die Zeitschau entzog ihm Kraft; eine Menge Kraft. Er verlangsamte den Run in die Vergangenheit. Die Wiedergabe der Szenerie veränderte sich, als habe er auf einem DVD-Player statt 56-facher Beschleunigung nur noch 6-fache gewählt.
Gerade zum richtigen Zeitpunkt!
Eben flog die Leiche mit blutigem Schädel in die Höhe, stand aufrecht - und als Zamorra das Bild einfror, bot sich ihm ein makabrer Anblick. Die Kugel schwebte zwischen dem Kopf des Opfers und dem nur dreißig Zentimeter entfernten Lauf der Pistole. Es war Zufall, dass genau in dieser Millisekunde der Bildstopp erfolgt war.
Einen Augenblick lang dachte Zamorra daran, dass er nur die Hand ausstrecken und die Kugel mit spitzen Fingern entfernen müsste, um einen schrecklichen Mord zu verhindern… doch obwohl er die Szene ganz deutlich vor sich sah, war sie doch keine Realität, sondern bloße zeitliche Erinnerung.
Ächzend löste sich der Meister des Übersinnlichen aus der Halbtrance… zumindest vorübergehend. Er würde sich jederzeit in genau diesem Moment wieder einklinken können.
Zunächst musste er sich ausruhen - er fühlte sich, als müsse er jeden Augenblick zusammenbrechen. Etwas Feuchtes rann über seine Oberlippe. Er wischte beiläufig mit dem Handrücken darüber. Im nächsten Augenblick spürte er das Blut zwischen seinen Fingern und schmeckte es zugleich: metallisch-bitter und doch süß.
Der mentale Kraftentzug hatte ihn auch körperlich derart beeinträchtigt, dass das Blut nur so aus der Nase schoss. So etwas erlebte er nicht zum ersten Mal - eine eigenartige Wechselwirkung hatte, wohl gemeinsam mit der großen Anspannung, eine Ader platzen lassen.
Er atmete tief durch und wünschte sich, er hätte etwas zu trinken bei sich. Der Mund und die Kehle fühlten sich entsetzlich ausgedörrt an. Jetzt hätte er sogar einen gepantschten Drink aus Andrés Kneipe mit Freuden zu sich genommen.
Die Zeitschau entzog ihm noch mehr Kraft und Energie, als er befürchtet hatte. Kein Zweifel - wenn er noch eine oder zwei Stunden später gekommen wäre, hätte er erfolglos abbrechen müssen.
Umso ärgerlicher war es, dass er alleine unterwegs war. Er hätte dringend jemanden benötigt, der ihm zur Seite stand und ihn notfalls beschützte. Denn wenn nun eine der Puppen angriff - oder auch nur ein verärgerter Kneipenwirt samt seinen Rausschmeißern - würde sich der sonst nicht um einen Kampf verlegene Professor kaum zur Wehr setzen können.
Er war ein leichtes Opfer.
Nur nicht drüber nachdenken, sagte er sich. Und schon gar nicht darüber, was ich mache, wenn ich tatsächlich die Spur des Mörders verfolgen kann… in diesem Zustand kann ich ihm kaum entgegentreten.
Die Parole hieß also: vorsichtig sein. Was brachte es schon, Nicole oder Pierre Robin als Einsatzpartner nachzutrauern.
Mit viel Glück konnte er den Mörder - die Puppe, hoffte er - bis zu seinem aktuellen Aufenthaltsort verfolgen. Dort durfte er sich nicht zu erkennen geben, sondern musste zunächst im Verborgenen beobachten, bis er wieder zu Kräften kam. Vielleicht konnte er auch per Handy Unterstützung anfordern; wenn sich eine der Puppen durch einen Messerstoß getötet hatte, hieß das wohl, dass sie mit herkömmlichen Waffen verletzbar waren. Auch normale Polizeibeamte konnten demnach ernsthafte Gegner für die unheimlichen hölzernen Killer sein.
Der Meister des Übersinnlichen atmete tief
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