0889 - Eishauch des Todes
aus den Augen verloren und nicht weiter verfolgen können.
So jedoch gelang es problemlos - von dem mentalen Kraftentzug abgesehen, der Zamorra von Sekunde zu Sekunde mehr zu schaffen machte. Seine Füße setzten rein automatisch einen Schritt nach dem anderen.
Dass er irgendwann in eine belebtere Gegend vordrang, bemerkte er kaum. Zwar hörte er die Stimmen und die Geräusche des allgegenwärtig fließenden Verkehrs, doch er achtete nicht darauf.
So ging es über zwei Stunden, wie Zamorra feststellte, als er eine kleine Pause einlegte und auf die Uhr schaute. Da sich der zeitliche Abstand zum Geschehen nicht weiter vergrößerte und keine temporale Differenz mehr überschritten werden musste, hielt sich der Kräfteverschleiß inzwischen in Grenzen; hinzu kam, dass Zamorra durch hartes Training mit eiserner Disziplin seinen Körper gedrillt hatte, notfalls auch über die eigentlichen Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen.
In der Pause murmelte er einige Zauberformeln der weißen Magie, die seinen Körper vorübergehend aufputschten - kein starker Zauber, eher mit der Wirkung einiger Tassen starken Kaffees vergleichbar. Er wandte solcherlei Tricks nicht gerne an, denn spätestens in vierundzwanzig Stunden würde er den Preis dafür bezahlen. Im Gegensatz zu schwarzer Magie, die ihre Kraft irgendwelchen hilflosen Opfern entzog, sammelte weiße Magie ihre Wirkung aus den verborgenen Kraftreserven des eigenen Leibes. Früher oder später würde der Zusammenbruch folgen. In diesem Fall später, hoffte Zamorra… wenn die Begegnung mit der Mörderpuppe hinter ihm lag.
Irgendwann während der nächsten Etappe beobachtete der Meister des Übersinnlichen, wie die Puppe im Eingang eines Hauses verschwand.
Erst als er sich aus der Konzentration löste, bemerkte er, dass er die belebte Straße längst wieder verlassen hatte. Er befand sich in einer Gegend, die wirkte wie das Abziehbild derjenigen, in der Andrés Kneipe stand - schäbig, heruntergekommen und schmutzig.
»Lyon ist eine Reise wert«, murmelte er.
Das Haus, vor dem er stand, war winzig. Der Verputz mochte einst gelb gewesen sein, starrte jedoch vor Schmutz und konnte nur noch als grau-schwarz bezeichnet werden. Ein Namensschild gab es nicht über der Knopfklingel, von der aus nackte Drähte zehn Zentimeter nach oben gingen, ehe sie in einem kleinen, unverputzten Loch der Wand verschwanden, in dem eine Spinne krabbelte, als Zamorra hineinsah.
Ein rascher Blick ergab, dass es wohl keinen anderen Weg aus dem Haus gab als diesen.
Zamorra zögerte keine Sekunde. Er ließ die Zeitschau weiter ablaufen, beschleunigte den Ablauf um ein Vielfaches. Die Zeit raste an ihm vorüber, Menschen hetzten in irrsinniger Geschwindigkeit durch das gedankliche Abbild… doch die Tür öffnete sich nicht.
Der Killer verließ das Haus nicht, bis zu diesem Moment.
Das konnte nur eins bedeuten - er musste sich noch im Haus befinden.
Zamorra atmete tief durch. Er war fündig geworden.
Seine Hand tastete nach dem Strahler der DYNASTIE DER EWIGEN, der sich in der Brustholster unter der Weste seines weißen Anzugs befand.
»Na, dann mal Action«, sagte der Meister des Übersinnlichen und klingelte.
***
Die weibliche Puppe war wieder unterwegs.
Etwas zog sie aus dem Haus - nicht nur der Wunsch, endlich fertig zu sein, kein ungeschlachtes, künstliches Gesicht mehr zu besitzen… sondern auch jenes unstillbare Drängen, das sie stets zielsicher zu ihrem nächsten Opfer führte.
Bewies nicht allein dieser Drang, dieses magische Band zwischen ihr und denen, die durch ihr Ableben das Aussehen der Puppe perfektionieren konnten, dass es ihr vorherbestimmt war zu töten?
Es war genau so, wie sie schon tausend Mal gedacht hatte. Sie konnte gar nicht anders. Es war ihr Existenzzweck, ihre innerste Bestimmung, Menschen zu ermorden und sich dadurch selbst zu vollenden.
Das änderte jedoch nichts daran, dass sie sich vor sich selbst ekelte, weil sie in Begriff stand, es schon wieder zu tun. Sie fragte sich, wie oft es noch geschehen musste, bis es endlich vorüber war, bis sie von einem wirklichen Menschen nicht mehr zu unterscheiden war.
Die wirklichen Menschen…
Wer wusste schon, ob all die Menschen um sie herum tatsächlich Menschen waren? Oder schon immer Menschen gewesen waren? Konnte es nicht sein, dass sie im Grunde - Puppen waren, hölzerne Kreaturen, denen auf unverständliche Weise Leben eingehaucht worden war, genau wie ihr selbst?
Erst der Anblick ihres Zielobjektes
Weitere Kostenlose Bücher