089 - Das Heer des Untoten
Gefühls, das ihn bei ihrem Anblick übermannte, geistesgegenwärtig genug, nicht loszulassen.
Es war ein Mädchen, blond, jung, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Ihr Haar hing in wirren Strähnen. Ihr Kleid war schmutzig, aber es war jenes, das Irene damals getragen hatte. In ihren Augen spiegelten sich Furcht und Ärger. Ihr Gesicht war ihm so vertraut, als hätte er es gestern noch gesehen.
„Irene", murmelte er.
Sie zerrte an ihrem Kleid.
„Lassen Sie mich los!" verlangte sie zornig. „Was fällt Ihnen ein, hier herumzuschnüffeln?"
„Verzeih mein Eindringen", bat Dorian und ließ sie los. „Ich habe geklopft, aber niemand hat geantwortet… "
„Das ist auch kein Grund, in mein Zimmer einzudringen", erwiderte sie heftig.
„Auch nicht für Taffy?" fragte er.
„Taffy? wiederholte sie fragend. „Sind Sie Taffy?"
Er zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Weißt du es?"
„Nein. Bitte gehen Sie jetzt. Ich wohne nicht allein hier. Mit meiner Tante. Wenn sie Sie hier findet, wird sie sehr böse.. ."
„Hast du den Namen Mother Goose schon einmal gehört? Wird vielleicht deine Tante so genannt?" fragte er.
Sie starrte ihn einen Augenblick verwirrt an, als besinne sie sich auf etwas, und ein halbes Lächeln kam auf ihren hübschen Mund. Im nächsten Moment war es wie fortgewischt. Ärger zeigte sich wieder in ihren dunklen Augen.
„Ich bin Dorian", sagte er rasch und eindringlich. „Dory…"
Aber es erschien kein Funke des Erkennens in ihrem Blick. Nein, sie war nicht Irene, nicht diese Irene. Wie absurd.
„Ich weiß nicht, was Sie herführt. Ich hoffe nicht, daß Sie einer von denen sind, die gerufen werden. Aber gehen Sie, bevor sie sich an Sie erinnert."
„Gerufen?" fragte er.
„Lassen Sie mich zufrieden", rief sie.
Bevor er sie zurückhalten konnte, war sie aus dem Zimmer verschwunden. Er starrte hinterher. Seine Gedanken wurden durch Stimmen unterbrochen. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß das Gewitter sich verstärkt hatte und heftiger Regen gegen die Scheiben trommelte. Es waren vertraute Geräusche.
Unten ging die große für, dann waren Stimmen im Haus - männliche Stimmen. Sie klangen unsicher.
Der Dämonenkiller lauschte verwundert. Gleich darauf vernahm er die Stimme des Mädchens, erst ungehalten, dann versöhnlicher, fast freundlich. Er trat hinaus auf den Korridor und schritt leise zur Treppe. Eine durchnäßte Gesellschaft stand unten in der Halle, vier Männer und drei Frauen, die offenbar vor dem Gewitter Unterschlupf gesucht hatten.
Aber hier, in dieser einsamen Gegend? Verwundert beobachtete er, daß das Mädchen ihnen die nassen Jacken und Mäntel abnahm und sie in einen der unteren Räume führte.
Nach kurzem Zögern stieg er hinab. Auf halber Treppe kam ihm das Mädchen entgegen. Abwesend sagte sie: „Gehen Sie zu ihnen. Sie gehören zu ihnen."
„Aber…" erwiderte Dorian verwirrt. „Ich kenne diese Leute nicht."
Sie zuckte die Schultern und lief an ihm vorbei.
Die Sache wurde immer geheimnisvoller, und seine Verwunderung wuchs. Er schritt kopfschüttelnd hinab, und die Stimmen sagten ihm, in welchem Raum er sie suchen mußte.
Seine Überraschung war groß, als er den Leuten gegenüberstand.
„Ah, wir sind nicht allein vom Unwetter überrascht worden", meinte einer der Herren und nickte ihm grüßend zu.
„Guten Tag", sagte Dorian Hunter. Die meisten nickten nur und musterten ihn befangen. Keiner schien ihn zu erkennen.
Doch Dorian glaubte, einige der Anwesenden zu kennen. Bei einem war er sich ganz sicher: Jeffers, sein einstiger Geschichtslehrer. Er war gealtert in diesen fünfzehn Jahren, hatte graue Haare und tiefe, bittere Falten. Der andere war Mr. Sykes, der Mann, dem der Buchladen gehört hatte. Auch er wirkte müde und verbraucht. Eine der Damen mochte Miß Carter sein, das Fräulein aus der Internatsbibliothek. Sie war damals nicht mehr die Jüngste gewesen, aber nun, mit dicker Hornbrille und verkniffenem Gesicht, wirkte sie steinalt. Aber ganz sicher war er nicht.
Die anderen waren ihm fremd. Dorian dämmerte, daß diese Zusammenkunft nicht zufällig war, sondern daß etwas, ganz Bestimmtes diese Leute hierhergeführt hatte - wie auch ihn.
Hatte nicht Irene damals gesagt, daß sie Dorian in Mr. Sykes' Laden zum erstenmal gesehen habe? Und Miß Carter mochte durch Jeffers in die Sache hineingezogen worden sein.
Der Raum war ein Speisezimmer mit einer langen Tafel, auf der eine dicke Schicht Staub lag. Es war wohl Monate oder Jahre
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