089 - Das Heer des Untoten
Lippen, die ganz nahe waren.
„Schließ die Augen", sagte sie.
Gehorsam schloß er sie. Er hörte Rascheln und ihr Atmen.
„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Dory, mein Liebster. Nur noch Träume. Es sollen gute Träume sein. Erfüllte Träume… Komm - komm zu mir…"
Er öffnete die Augen.
Das Mädchen hatte sich entkleidet und stand mit ängstlichem Gesicht vor ihm.
„Meine Tante sagt, daß unsere Art nicht lieben kann. Weil andere Kräfte in uns sind. Aber ich sehne mich so danach, Dory. Zeig mir, daß sie unrecht hat."
Der Dämonenkiller setzte sich erneut auf. Die Erinnerungen waren übermächtig. Wie hatte er all das nur vergessen können? Wie war es möglich, daß es nun so klar vor ihm stand?
Er hatte sie geliebt. Und sie? Hatte sie gefunden, was sie sosehr ersehnt hatte?
Das alles war vor fast eineinhalb Jahrzehnten geschehen. Eine zu lange Zeit, um sich so plötzlich wieder darauf zu besinnen.
Das Schicksal hatte es in der Tat so gewollt, daß er das Mädchen nie mehr wiedersah. Am Tag nach diesen Geschehnissen - es war ein Montag - war er auf Veranlassung von Mr. Jeffers, wie er später erfuhr, aus dem Internat gebracht worden.
Weder das Mädchen noch Mother Goose hatte er je wiedergesehen. In den ersten Wochen und Monaten hatte er sich verzehrt vor Sehnsucht nach Irene. Mehrmals hatte er versucht zurückzufahren, aber nie war es ihm gelungen. Als seien da Mächte gewesen, die es verhindern wollten. Es gab sie wohl, daran zweifelte er nun nicht - nach all seinen Erfahrungen mit der Welt der Schatten.
Seine Nächte waren voll von Träumen, wie sie es gewollt hatte. Schmerzlich waren diese Erinnerungen, schmerzlicher als vieles, was später geschehen war.
Und irgendwann vergaß er sie dann. Wann war das gewesen? Es mußte geschehen sein, während er noch in diesem städtischen Internat gewesen war, in das sie ihn gebracht hatten.
Grübelnd saß Dorian Hunter in der Dunkelheit.
Warum kehrten diese Erinnerungen nun zurück?
Bedeutete es irgendeine Gefahr? Hatte noch jemand Zugang zu diesen Erinnerungen? Hekate? War es ein neuer, unerwarteter Schachzug in ihrem Kampf mit dem Hermaphroditen? Ein Ablenkungsmanöver?
Wenn Mother Goose nur einen Bruchteil der Kräfte hatte, die er nun kannte, dann besaß sie etwas von ihm. Etwas, das ihn an sie ketten mochte! Etwas, das seinen Feinden nützen mochte!
Er stand unruhig auf und griff nach den Zigaretten. Er warf einen Blick auf die Uhr, Halb vier.
Er fühlte sich plötzlich unsicher. Etwas Unerklärliches geschah mit ihm. Vorerst wenigstens war es unerklärlich.
Wenn wenigstens Coco hier wäre! Aber sie wollte nach dem Kind sehen, und dieses Versteckspielen war etwas, das mehr an seinen Nerven zerrte, als er sich eingestehen wollte. Außer Miß Pickford befand sich nur noch Sullivan in der Villa. Aber Sullivan war ihm nun keine große Hilfe.
Seine Unsicherheit wuchs.
Er drückte die halbgerauchte Zigarette aus.
Das Poesiebuch!
Er wußte, wo es sich befand - unberührt. Er hatte es nie gelesen.
Wie alles andere hatte er es einfach vergessen, vielleicht tatsächlich durch einen Bann des Mädchens. Sie hatte ihn beschworen, es nicht zu lesen!
Aber jetzt ließ es ihm keine Ruhe mehr. Mit einer Taschenlampe machte er sich auf den Weg in den Keller. Seltsamerweise wußte er nun genau, wo unter all den okkulten Dingen sich das kleine Buch befand.
Wenig später hatte er es vor sich. Der Drang, es zu öffnen und zu lesen, war übermächtig. Er spürte, daß ihn etwas dazu trieb, und alle seine Vorsicht würde ihn nicht davon abhalten.
Andererseits waren viele Jahre vergangen. Die Zeit neutralisierte vieles. Unbewußt fanden seine Finger die Gemme, die er um den Hals trug. Nachdenklich betrachtete er das Buch. Dann gab er sich einen Ruck und öffnete es.
Die Seiten waren leer.
Was immer es enthalten haben mochte, es war verschwunden. Erleichtert und beunruhigt zugleich wollte er es zurücklegen. Aber etwas ließ ihn innehalten und es erneut durchblättern. Und dann sah er auf einer der Seiten eine verblaßte rote Schrift - aber deutlich lesbar.
Der Reim, den ihm Mother Goose angekündigt hatte:
Taffy war ein Welscher
Taffy war ein Dieb
In mein Haus der Taffy kam
Sich ein Stück vom Ochsen nahm
Ich suchte Taffy heim
Taffy lag im Bett
Mit einem scharfen Messer
Schnitt ich den Kopf ihm weg.
Das Lächeln erstarb auf Dorian Hunters Lippen. Seine Hand fuhr nervös durch sein schwarzes Haar. Er klappte das Buch zu und begab sich in die
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