0891 - Knochenklaue
Holz, aber lustig bemalt. Sie standen in den nicht zu hohen Regalen, damit die Kinder auch an die oberen herankommen konnten.
Vor den Fächern blieb Ann stehen. Auch jetzt glitt ihr Blick daran entlang. Sie fing unten an, ihre Augen bewegten sich, sie schaute sich die mittleren Regale an, danach die oberen.
Dort fiel ihr etwas auf.
Zuerst runzelte sie die Stirn, dann schüttelte die den Kopf, denn etwas hatte sich verändert. Eine Puppe saß nicht mehr so an ihrem Platz, wie sie eigentlich hätte sitzen müssen. Sie lag jetzt auf dem Bauch zwischen den anderen, mit dem Kopf zur Wand.
War es das gewesen, was sie gehört hatte?
Ann Cordy wußte es nicht. Sie hob die Puppe an - und erschrak.
Jemand hatte ihr das Gesicht eingedrückt!
Für einen Moment war Ann fassungslos. Wer tat das? Und wer hatte die Kraft, denn die Puppe bestand aus einem ziemlich harten Material.
Die Puppe hatte ein hübsches Gesicht gehabt. Davon war so gut wie nichts mehr zu sehen. Nur der Mund war noch zur Hälfte zu erkennen, wobei er allerdings auch schief stand.
Eingedrückt…
Wer tat so etwas?
Ann schluckte. Sie merkte, daß die Furcht wieder zurückkehrte. Allmählich stieg sie in ihr hoch wie ein widerliches Gift, das nicht mehr zu stoppen war.
Das Gesicht einer Puppe einzudrücken, wer tat so etwas? Sie nicht. Mrs. McBain ebenfalls nicht.
Jemand mußte im Laden gewesen sein.
Vor kurzem noch…
Aber wo steckte er? Wie war er hineingelangt?
Fragen, auf die sie keine Antwort wußte. Plötzlich war es ihr viel zu warm. Sie sehnte sich nach einem kalten Luftstrom, der ihr erhitztes Gesicht kühlte. Sie wollte, nein sie wollte nichts mehr.
Auf einmal hörte sie das Knirschen!
***
Innerhalb weniger Augenblicke verwandelte sich Ann Cordy in eine Eisfigur. Sie stand auf der Schwelle, ohne sich zu rühren. Sie dachte daran, daß sie jetzt ganz allein im Laden war, sie wünschte sich, daß die Tür aufgestoßen wurde und ein Kunde den Laden betrat, und sie wünschte sich auch, sich geirrt zu haben.
Die beiden letzten Wünsche wurden ihr nicht erfüllt. Sie hatte sich nicht geirrt. Dieses verdammte Knacken hatte den Tatsachen entsprochen, und sie wußte auch, wo es aufgeklungen war: in ihrem Rücken.
Wenn sie sich drehte, würde sie es sehen können.
Aber sie traute sich nicht.
Ann blieb stehen. Sie ließ die Sekunden verrinnen und atmete heftig ein und aus.
Wieder knirschte und knackte es hinter ihr.
Näher? Weiter? Sie konnte keine Antwort geben, doch die innere Stimme riet ihr, sich endlich zu drehen.
Das tat sie auch!
Sehr schnell sogar, so daß die Puppen in den Regalen vor ihren Augen verschwammen.
Sie aber waren nicht mehr wichtig. Für sie zählte einzig und allein die Puppe, die in Augenhöhe vor ihr in der Luft schwebte. Sie bestand aus demselben Material wie die erste zerstörte Puppe. Nur wurde ihr von unsichtbaren Kräften langsam der Hals umgedreht…
***
Ann Cordy tat nichts. Sie hatte das Gefühl, innerlich lachen zu müssen. Sie stand da und starrte nach vorn. Ihr Blick war leer. Sie schaute nur zu. Hätte sie einen Spiegel zur Hand gehabt, so hätte sie ein völlig fremdes Gesicht gesehen, eine Haut, die grau geworden war, und selbst die Augen hatten ihren Glanz verloren.
Die unsichtbare Kraft drehte weiterhin am Hals der Puppe, als wollte sie aus ihm eine Spirale machen. Die Geräusche klangen schlimm und häßlich, sie knirschten und knackten. Dazwischen erklang ein Riespeln, als würde Sand nach unten auf ein Blech fallen. Dabei sah die Puppe so niedlich aus. Sie trug ein hellblaues Kleid und war so groß wie ein Unterarm. Weiße Socken und dunkelblaue, kleine Schuhe vervollständigten die Kleidung.
Und die Kraft drehte weiter, daß es knirschte und knackte.
Geräusche, die Ann Cordy unter die Haut gingen. Die Puppe blieb dabei vom Oberkörper her ruhig, weil die andere unsichtbare Hand sie so festhielt. Ann spürte auf ihrer Haut einen dicken Schauer.
Sie war nicht in der Lage, etwas zu begreifen. Was da ablief, wollte ihr nicht in den Sinn.
Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen. Wie unter Zwang starrte sie die Puppe an, deren Hals zwar brach, aber sich zugleich dehnte. Kleine rosafarbene Splitter fielen zu Boden und prallten auf wie harter Schnee.
Der Kopf saß längst schief. Das kleine Puppengesicht schaute Ann nicht mehr an, aber es wurde weitergedreht, verlor seinen Ausdruck, weil erste Risse es durchzogen, und mit einer letzten, aber sehr starken Bewegung drehte die unsichtbare
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