0895 - Schattenkiller
kenne?«
Meine Antwort war ehrlich. »Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen, Marco.«
Er stieß mir seine rechte Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger entgegen. »Du lügst mich an. Du weißt genau, John, daß Lucille nicht mehr dieselbe sein kann wie zuvor. Warum gibst du es nicht zu, verflucht? Warum sagst du es nicht?« Aus seinen Augen sickerten plötzlich Tränen. Ich konnte ihn gut verstehen. Er war ein Mensch, der an seiner Schwester sehr gehangen hatte. Was mit ihr passiert war, das konnte man in Worten kaum ausdrücken.
Ich versuchte trotzdem, ihn ein wenig zu beruhigen. »Deine Schwester ist stark, Marco. Sie hat vieles überstanden. Sie wird es sich und ihm nicht leicht machen. Wir müssen an sie glauben.«
Er starrte mich an. Er wollte mir nicht glauben. Er schüttelte den Kopf, schluckte und schluchzte.
Damit er wußte, wohin er zu gehen hatte, wies ich ihm den Weg.
Unser Ziel war der Ausgang. Auch Helene schloß sich uns an. Sie hatte dieses grausame Spiel begonnen und nicht gewußt, daß es ihr aus den Händen gleiten würde. So etwas war klar. Als Mensch war man nie stärker als die Wesen aus anderen Welten. Immer wieder hatten sie die Menschen zu ihren Spielbällen degradiert. Das war in der Vergangenheit so gewesen, das blieb in der Gegenwart, und auch in der Zukunft würde es nicht anders sein, das wußte ich genau.
Mit müde wirkenden Schritten ging Marco Anderre neben mir die Treppe hoch. Er hatte aufgegeben, er konnte nicht mehr, er war am Ende. Zuviel war auf ihn eingeströmt. Ich wollte ihn ansprechen, aber meine Worte blieben in der Kehle zurück, als ich hinter uns das röchelnde Geräusch hörte.
Blitzartig fuhr ich herum und ging gleichzeitig bis zur Wand. Im trüben Licht und drei Stufen von uns entfernt, stand Helene.
Noch stand sie.
Das würde sich bald ändern, denn aus ihrer Brust ragte der Griff eines Messers…
***
Der Fall eskalierte. Zum erstenmal wurden wir richtig mit dieser brutalen Bösartigkeit konfrontiert.
Beide schauten wir auf die schwankende Gestalt, deren Hände sich bewegten. Die Arme hielt sie ausgestreckt, sie suchte irgendwo Halt, doch sie fand keinen, weil die Wände einfach zu weit entfernt waren.
Hin und wieder schwankte die Frau. Sie hielt den Mund weit offen. Blut strömte über die Zunge und sickerte dann über die Unterlippe hinweg auf das Kinn.
Aber sie versuchte zu sprechen, was ihr auch letztendlich gelang. »Keinen, keinen Sinn mehr!« röchelte sie. »Es ist alles aus. Ich werde sterben. Kein Ziel seiner Rache, nein, ich nicht. Ich habe versagt, ich wollte den Engel und habe den Teufel geholt…«
Ihre Arme bewegten sich. Sie suchte nach einem Halt, aber den gab es nicht in ihrer Nähe. Sie griff ins Leere, sie sackte zur Seite und würde fallen, doch ich war schneller.
Noch bevor sie in die Knie brechen konnte, hatte ich sie erreicht und fing sie auf.
Mein Blick in ihr Gesicht war Antwort genug. Trotz der schlechten Beleuchtung sah ich, daß ihre Augen gebrochen waren. Sie konnte mich nicht mehr sehen, der Tod hielt sie in den Klauen und würde sie nie mehr loslassen.
Von oben her schaute Marco Anderre zu, wie ich die Frau auf die Stufe bettete. »Ist sie tot?«
»Ja. Sie hat sich selbst gerichtet. Das Messer muß das Herz getroffen haben.«
Marco nickte nur. Er drehte sich um und ging. Ich folgte ihm wenig später.
Was bisher gar nicht mal so schlimm ausgesehen hatte, war nun eskaliert.
Aus dem Pandämonium war etwas hervorgelockt worden, was in dieser von Menschen bewohnten Welt nichts zu suchen hatte. Doch wer hoch griff, konnte auch tief fallen.
***
Marco erwartete mich im Gang. Kreidebleich im Gesicht stand er an der Wand und rang nach Atem.
»Ich will nicht glauben, John, daß alles vorbei ist. Es muß noch etwas geben, zumindest meine Schwester. Sie haben wir nicht gesehen. Was immer mit ihr auch geschehen sein mag, sie bleibt meine Schwester, und ich will sie erleben, ich will zumindest versuchen, mit ihr zu reden.«
»Das wirst du auch können. Komm jetzt.«
***
Es schneite noch immer. Aber die Flocken fielen nicht mehr so dicht und der Himmel war in seiner gesamten Breite ein wenig heller geworden. Ein gutes Omen?
Ich wollte darauf keine Antwort geben. In diesem Fall mußten wir alles auf uns zukommen lassen.
Wie auch den kalten Windstoß, der uns entgegenfuhr.
Sehr bald stellten wir fest, daß die Außentür nicht geschlossen war. Flocken fanden ihren Weg in das Innere, wo sie auf dem Steinboden
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