0895 - Schattenkiller
schmolzen. Dort hatte sich bereits eine Lache gebildet, aber sie übersahen wir.
Marco gab einen Laut von sich, der auch von einem Tier hätte stammen können. Er war stehengeblieben, hielt den rechten Arm vorgestreckt und deutete auf die Gestalt, die ihren Platz vor der Lache gefunden hatte.
Es war Lucille.
Und sie lächelte uns an…
***
Diesmal hielt ich Marco nicht fest, als er auf seine Schwester zueilte. Ich war allerdings sehr wachsam, was nicht nötig war, denn Lucille kam ihrem Bruder entgegen, und beide lagen sich plötzlich in den Armen. Ich blieb in einem gebührenden Abstand stehen und überließ sie ihrem trügerischen Glück.
Ja, es war für mich trügerisch, denn ich konnte mich einfach mit der neuen Lage nicht so ohne weiteres abfinden. Irgendwo paßte das nicht zusammen, denn das Bild, das Marco und mir von Lucille vorschwebte, war ein ganz anderes. Nicht das, was ich jetzt erlebte. Eine junge Frau, die in den Armen ihres Bruders Schutz suchte.
Beide sprachen; sie redeten aufeinander ein, doch keiner verstand den anderen.
Ich warf einen Blick nach draußen.
Es fiel kein Schnee mehr. Beinahe übergangslos hatte es aufgehört zu schneien. Die Landschaft war durch das weiße Leichentuch gleich gemacht worden. Ein kalter Wind erreichte mein Gesicht und biß in die Haut hinein.
Wie ging es jetzt weiter?
Ich selbst brauchte mir auf diese Frage keine Antwort zu geben, das tat Marco. Er hatte sich von seiner Schwester gelöst, hielt aber noch ihre rechte Hand fest. »Sie ist okay, John, schau sie dir an, sie ist wirklich okay.«
»Ich hoffe es.«
»Ja, das stimmt!« Er schaute sie an, lächelte und sprach weiter. »Lucille will weg hier, John. So schnell wie möglich. Sie will nicht mehr länger bleiben.« Er streckte mir seine freie Hand entgegen.
»Es ist doch in deinem Sinne - nicht wahr?«
»Sicher.«
»Können wir dann sofort los?«
Ich wußte, daß ich nicht ablehnen konnte, obwohl ich es gern getan hätte. Deshalb war ich gezwungen, nach einem Kompromiß zu suchen, und ich würde ihn finden.
Es war sehr einfach.
Ich würde zusammen mit den Geschwistern den Ort hier verlassen und später noch einmal zurückkehren. Und ich nahm mir vor, Lucille auf eine Probe zu stellen. Das nicht erst später, sondern jetzt.
Sie schaute mir aus großen Augen entgegen, als ich auf sie zuging, denn sie sah plötzlich das Kreuz in meiner Hand.
»Was ist los, John? Traust du ihr nicht?«
»Bitte, sei ruhig, Marco.«
»Okay, okay.«
»Was ist mit dem Kreuz?« flüsterte Lucille. »Wer sind Sie?«
»Ich heiße John. Bitte, fassen Sie es an!«
»Warum?«
»Weil ich Sie darum bitte.«
Noch einmal schaute sie auf meinen Talisman. Dann wechselte ihr Blick zu Marco, doch er konnte ihr nicht helfen und hob nur die Schultern an. Einen Wimpernschlag später schrak er zusammen, denn da hatte seine Schwester das Kreuz berührt.
Es passierte - nichts!
Alles blieb normal. Es gab keine Reaktion. Kein Licht, keinen Schrei. Lucille machte es nichts aus, das Kreuz anzufassen. Als sie es losließ, da lächelte sie. »War es gut, John?«
Ich lächelte zurück. »Es war sogar sehr gut, Lucille.«
»Danke.« Sie runzelte die Stirn. »Und warum habe ich es anfassen sollen?«
»Nur so, ein Test, nicht mehr.«
»Dann können wir jetzt gehen?«
»Dem steht nichts im Wege.«
Die Geschwister freuten sich. »Hast du einen Mantel?« erkundigte sich Marco besorgt.
»Nein, wohl nicht.«
»Dann nimm meine Jacke.« Er zog sie aus und hängte sie seiner Schwester um. Vor mir noch gingen sie Hand in Hand hinaus ins Freie.
Ich hätte mich eigentlich freuen können, aber ich tat es nicht, denn ein ungutes Gefühl war geblieben. Auch wenn Lucille das Kreuz hatte anfassen können, irgend etwas war hier nicht in Ordnung, und so blieb ich auf der Hut…
***
Wir schritten durch den tiefen Schnee und lauschten dem Knirschen nach, das unsere Füße hinterließen. Ich ging hinter den Geschwistern und war von der weißen Pracht leicht geblendet. Mir fehlte eine dunkle Brille, deshalb kniff ich die Augen zusammen.
Die Umgebung hatte sich verändert. Wir hätten auch irgendwo im fernen Sibirien sein können, statt in Nordfrankreich.
Es war ein Nachteil, daß der Clio so weit entfernt stand. Längst hatte ich nasse Hosenbeine bekommen.
Lucille und Marco gaben sich gelassen. Sie freuten sich. Immer wieder mußte Marco seine Schwester an sich drücken und ihr Gesicht streicheln.
Mein Gott, weshalb freute ich mich nicht? Ich
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