0897 - Ein Hauch von Magie
Der Himmel erschien als beinahe blütenweißer Baldachin, unter dessen Kuppe die infernalisch schönen Nordlichter tanzten.
Gavro Yaal stand auf der oberen Steinplatte eines uralten, halb von Erdreich bedeckten Grabes und sah vor dem Hintergrund des weißen und faserig grellen Horizonts die scharfen Umrisse der schwarzen Berge, hinter denen das Land Chamubal lag.
Er erkannte die Gefahr im buch-stäblich letzten Augenblick daran, daß die hohen bleichen Schachtel-halme mit ihren graugrünen Sporen-ähren, die sich vor den schwarzen Bergen überdeutlich abhoben, sich flach legten, so daß die Köpfe schräg zu dem einsamen Mann wiesen.
Typisch für einen Raumgeborenen war, daß er bei diesem Anblick zuerst an den Begriff „Druckwelle" dachte. An „Turbulenzen" oder „Stürme" be-ziehungsweise „Orkane" dachte er im Zusammenhang mit energetischen Phänomenen des Weltraums.
Aber wenigstens reagierte Gavro Yaal zweckentsprechend, denn auch vor einer Druckwelle suchte man Deckung - und ein Sturm auf diesem Planeten konnte so verheerend wir-ken wie die Druckwelle einer Nukle-arexplosion.
So kam es, daß der Solgeborene hinter dem Steingrab lag, als der Sturm ihn erreichte und alles, was das Dach der zusammengeduckten Moor-pflanzenwelt überragte, zerfetzte, fortriß oder umbrandete.
Gavro Yaal begriff nicht einmal, warum die Kanten der Grabplatten wie glattgeschliffen aussahen.
Sie waren glattgeschliffen worden - von unzähligen Stürmen.
Gavro Yaal krallte sich in Erde und bodenbedeckenden Pflanzen fest, während es rings um ihn ohrenbetäu-bend heulte. Der Sog des Sturmes war so stark, daß er Gavro die Atemluft wegriß. Der Solgeborene dachte in diesen Minuten nicht an seine techni-sche Ausrüstung. Er schützte sich davor zu ersticken, indem er sich eng an die Seitenplatten des Grabes drängte, die Arme vor dem Gesicht ver-schränkte und in einer dadurch ge-schaffenen Nische weiteratmete.
Der Sturm schien nicht ein einziges Mal Atem holen zu müssen. Das Heu-len schwächte sich niemals ab, son-dern blieb konstant und ließ den ein-samen Menschen das Gefühl für Raum und Zeit verlieren.
Als der Sturm so schlagartig auf-hörte, wie er eingesetzt hatte, fühlte Gavro Yaal sich losgelöst von allem Materiellen, so als schwebte er allein in einer von Dunkelheit erfüllten Höhle, deren Wände er niemals er-blicken würde.
Aber er wäre kein Raumgeborener gewesen, wenn er dadurch in Panik geraten wäre. Seine Heimat war das Universum - und das ist schließlich auch eine Höhle, deren Wände der Mensch niemals erblicken kann.
Gavro Yaal krümmte den Körper so zusammen, als wollte er unter Schwe-relosigkeit eine Drehung vollführen -und spürte wieder feste Materie zwi-schen den Fingern, am Leib und an den Beinen.
Er riß die Augen auf und schnellte hoch, als er ein grauenhaftes Ge-räusch hörte: eine Mischung zwischen dem Stöhnen Gefolterter, dem Klap-pern nackter Gerippe und dem Zi-scheln urweltlicher Drachen.
Doch es war nur die nasse Sumpf-vegetation, die sich nach dem Sturm wieder aufrichtete und dabei alle möglichen Geräusche erzeugte.
Erleichtert lehnte sich Gavro Yaal gegen das Steingrab, legte den Kopf zurück und schaute in den blassen kla-ren Himmel, über den die Lichtvorhänge der Polarlichterscheinungen ih-ren farbenfrohen Tanz vortrugen.
Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er ein planetengebundenes Phänomen als schön. Daran änderte sich auch nichts, als er seine behand-schuhten Hände betrachtete und die zahllosen kleinen braunen Stacheln sah, die am Handschuhmaterial hin-gen.
Er war sicher, daß die Stacheln das Material nicht durchdringen konn-ten, denn die Handschuhe waren wie seine gesamte Ausrüstung in der SOL hergestellt worden - und auf unter-schwellige Art glaubte jeder Solaner daran, daß es nichts Besseres gab als das, was in seiner geliebten Mutter-welt erzeugt wurde.
Nebelfäden von Myceliden trieben auf ihn zu und erinnerten ihn daran, daß Datmyr-Urgan eine Welt war, die nicht für den Menschen geschaffen war und auf der er nicht für längere Zeit unbeschadet leben konnte. Allein schon durch den stärkeren Strah-lungseinfall hätten Menschen wahr-scheinlich schon in der dritten Sied-lergeneration kaum noch Ähnlichkeit mit ihren Eltern gehabt.
Er wich den Nebelfäden aus, schoß mit dem Paralysator auf einen Blut-vogel, der sich auf ihn stürzte, und lief den Grabhügel hinab, um seinen Weg fortzusetzen.
Auch die bis zu dreißig Meter hohen Schachtelhalme mit
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