09 - Befehl von oben
Damen
hatte. Der durchschnittliche Zuschauer würde nie dahinterkommen, mit
welcher Raffinesse er Barrys Schubladen aufgezogen hatte. Was für ein
Profi!
»In einer Situation wie dieser, wo die Regierung außer Gefecht gesetzt
ist? Es könnte Jahre dauern, wieder in Ordnung zu bringen, was er zerstören
mag«, sagte Kealty mit der ernsten Besorgnis eines bewährten Hausarztes.
»Nicht, weil er ein böser Mensch wäre. Das ist er ganz bestimmt nicht. Nur
weiß er eben nicht, wie man das Amt des Präsidenten der Vereinigten
Staaten führt. Er weiß es einfach nicht, Barry.«
»Wir sind gleich wieder zurück«, sagte Barry in die Kamera. Arnie hatte
genug gehört und wollte die Werbespots nicht sehen. Er griff zur
Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
»Mr. President, bisher habe ich mir keine Sorgen gemacht, aber jetzt
mache ich mir welche.« Er hielt einen Moment inne. »In einigen der großen
Tageszeitungen werden Sie morgen Leitartikel lesen können, die
beipflichten werden, daß ein Rechtsausschuß gebildet werden soll, und
Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als sich darauf einzulassen.« »Moment mal. Das Gesetz besagt nicht, daß ...«
»Das Gesetz besagt überhaupt nichts. Und selbst wenn es so wäre, wir
haben keinen Supreme Court, um das zu entscheiden. Wir leben in einer
Demokratie, Jack. Der Wille des Volkes wird entscheiden, wer Präsident
sein soll. Der Wille des Volkes wird von dem beeinflußt, was die Medien
sagen, und Sie sind im Umgang mit den Medien niemals so gut wie Ed.« »Schauen Sie, Arnie, er ist zurückgetreten. Ich bin vom Kongreß als
Vizepräsident bestätigt worden, Roger ist getötet worden, und ich wurde
Präsident, und das ist das verdammte Gesetz. Und ich habe mich an das
Gesetz zu halten. Ich habe einen Eid geleistet, das zu tun, und das werde
ich. Ich habe diesen verdammten Job nie gewollt, aber ich bin auch in
meinem ganzen Leben nie vor etwas davongelaufen, und ich will verdammt
sein, wenn ich diesmal davonlaufe!« Da war noch etwas anderes. Ryan
mochte Kealty nicht. Mochte seine politischen Ansichten nicht, mochte
seine Harvard-Arroganz nicht und mochte, verdammt noch mal, sein
Verhalten Frauen gegenüber nicht. »Wissen Sie, was er ist, Arnie?« knurrte
Ryan.
»Ja, das weiß ich. Er ist ein Zuhälter, ein Betrüger. Er hat keinerlei
Überzeugungen. Er hat nie das Gesetz vertreten, aber er hat unzählige
mitgeschrieben. Er ist kein Arzt, aber er hat den staatlichen
Gesundheitsdienst mitbegründet. Sein ganzes Leben lang ist er
Berufspolitiker, immer vom Staat bezahlt. Nie hat er auf dem
privatwirtschaftlichen Sektor ein Produkt oder eine Dienstleistung
hervorgebracht, aber er hat sein Leben damit zugebracht, zu entscheiden,
wie hoch die Steuern sein sollten und wie dieses Geld ausgegeben werden
sollte. Die einzigen Schwarzen, denen er als Kind begegnet ist, waren die
Hausmädchen, die ihm das Zimmer aufgeräumt haben, aber er ist ein
Verfechter der Minderheitenrechte. Er ist ein Heuchler. Aber er wird
gewinnen, wenn Sie sich nicht zusammennehmen, Mr. President«, sagte
Arnie und schüttete damit Trockeneis auf Ryans erhitztes Gemüt.
*
Der Patient hatte, wie aus den Unterlagen hervorging, im Oktober eine Reise in den Fernen Osten unternommen, und in Bangkok hatte er sexuelle Dienste in Anspruch genommen, für die das Land bekannt ist.
Pierre Alexandre, seinerzeit Captain und einem Lazarett in dem tropischen Land zugeteilt, hatte sich ihnen ebenfalls hingegeben. Und er hatte deswegen auch kein schlechtes Gewissen. Er war jung und töricht gewesen, wie Leute seines Alters eben waren. Aber das war vor AIDS gewesen. Und er war nun derjenige, der dem Patienten, männlich, weiß, sechsunddreißig, sagen mußte, daß er HIV-Antikörper im Blut hatte, daß er mit seiner Frau keinen ungeschützten Sex haben durfte und daß sie sofort ihr Blut untersuchen lassen sollte. Ach, sie war schwanger?
Unverzüglich! Möglichst gleich morgen!
Alexandre kam sich vor wie ein Richter. Es war nicht das erstemal, daß er eine solche Mitteilung machen mußte, und sicher auch nicht das letztemal, aber wenn ein Richter das Todesurteil sprach, dann zumindest wegen eines schlimmen Verbrechens und auch erst nach einem Gerichtsverfahren. Dieser arme Kerl hier hatte sich aber nichts weiter zuschulden kommen lassen, als daß er zwölf Zeitzonen von zu Hause entfernt ein Mann gewesen war, vermutlich betrunken und einsam.
Vielleicht hatte es per Telefon Streit gegeben. Vielleicht hatte es nur an
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