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09 - Befehl von oben

09 - Befehl von oben

Titel: 09 - Befehl von oben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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anzusehen. Dieser angebliche Mann, dieser Präsident, mußte kämpfen, Tränen zurückzudrängen. Wußte er nicht, der Tod ist Teil des Lebens? Hatte er nicht selbst getötet? Wußte er nicht, was Tod bedeutet? Mußte er das erst lernen? Die anderen nicht, das war zu sehen. Sie waren ernst, der Trauerfeier gemäß, doch alles Leben geht mal zu Ende. Ryan sollte es wissen. Er hatte Gefahren bestanden - doch das war lang her, erinnerte er sich, und Menschen vergessen mit der Zeit. Ryan hatte die Verletzlichkeit des Lebens als beschütztes Regierungsmitglied vergessen. Es amüsierte den Mann, wieviel man doch in wenigen Sekunden vom Gesicht eines Menschen ablesen konnte.
Das machte die Sache einfacher, nicht wahr?
Die Premierministerin Indiens saß fünf Reihen weiter hinten, aber am Gang, und obwohl sie Präsident Ryans Kopf nur von hinten sah, war auch sie eine Studentin des menschlichen Verhaltens. So durfte kein Staatsoberhaupt handeln. Ein Staatsoberhaupt war schließlich Akteur auf der bedeutendsten Bühne der Welt und hatte zu lernen, was man tat und wie man sich verhielt. Sie hatte an Beerdigungen verschiedenster Art teilgenommen, ihr ganzes Leben lang, denn politische Führer hatten Kollegen - nicht immer Freunde -, jung und alt, und man mußte ihnen Respekt erweisen durch sein Erscheinen, selbst gegenüber jenen, die man verabscheut hatte. Bei letzteren konnte es amüsant sein. In ihrem Land wurden ja die Toten oft verbrannt, und sie konnte sich vorstellen, daß der Körper noch lebte, als er verbrannte. Beim Gedanken zuckten ihre Augenbrauen vor privater Belustigung. Besonders bei denen, die du verabscheut hast. Es war eine so gute Übung, betrübt zu erscheinen. Ja, wir hatten Differenzen, doch er war stets jemand, den man respektierte, jemand, mit dem man arbeiten konnte, jemand, dessen Gedanken immer ernsthafte Aufmerksamkeit verdienten. Mit Übung wurde man über die Jahre so gut, daß die Hinterbliebenen die Lügen glaubten - zum Teil, weil sie sie glauben wollten. Man lernte, genau so zu lächeln und Gram genau so zu zeigen und genau so zu sprechen. Man mußte es. Ein politischer Führer konnte sich kaum erlauben, echte Gefühle zu zeigen.
Echte Gefühle verrieten anderen, wo die eigenen Schwächen lagen, und es gab immer welche, die sie gegen einen nutzten - deshalb verbarg man sie im Laufe der Jahre mehr und mehr, bis man schließlich kaum noch, wenn überhaupt, echte Gefühle hatte. Und das war gut so, denn in der Politik ging es nicht um Gefühle.
Eindeutig wußte dieser Ryan nichts davon, sagte sich die Premierministerin der >größten Demokratie der Welt<. Und deshalb zeigte er, was er wirklich war; schlimmer noch für ihn, er tat es vor einem Drittel der höchsten politischen Führer der Welt, Leuten, die es sahen und daraus lernten und ihre Gedanken zur späteren Verwendung speicherten. Genau wie sie. Vorzüglich, dachte sie, hielt ihr Gesicht düster und traurig zu Ehren von jemandem, den sie gründlich verabscheut hatte. Als die Orgel das erste Lied einleitete, nahm sie das Gesangbuch, schlug die Seite auf und sang wie alle anderen mit.
Der Rabbi machte den Anfang. Jeder der Geistlichen hatte zehn Minuten, und jeder von ihnen war ein Experte - genauer, ein echter Gelehrter, über die Berufung als Mann Gottes, hinaus. Rabbi Benjamin Fleischman sprach aus dem Talmud und der Thora, von Pflicht und Ehre und Glauben, von einem barmherzigen Gott. Dann kam Reverend Frederick Ralston, Kaplan des Senats - der an jenem Abend verreist gewesen und so der stilleren Teilnahme an den Ereignissen des Tages entkommen war.
Als Baptist aus dem Süden und verehrter Experte für das Neue Testament, sprach Ralston vom Leidensweg Christi, von seinem Freund, Senator Richard Eastman aus Oregon, von allen geschätzt als ehrenvolles Kongreßmitglied, und leitete über zum Lob auf den gefallenen Präsidenten als hingebungsvollen Familienvater, wie alle wußten ...
Es gab keinen >richtigen< Weg, solche Dinge anzugehen, dachte Ryan.
Vielleicht wäre es leichter, wenn der Pfarrer/Priester/Rabbi Zeit hätte, mit den Leidtragenden zu reden, aber das war in diesem Fall nicht geschehen, und er fragte sich ...
Nein, dies ist nicht richtig! sagte sich Jack. Dies war Theater. Und so sollte es nicht sein. Wenige Schritte entfernt, über den Gang hinweg, saßen Kinder, für die es überhaupt kein Theater war. Für sie war es viel einfacher. Es waren Mom und Dad, aus dem Leben gerissen durch eine sinnlose Tat, die ihnen eine Zukunft

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