09 - Denn sie betrügt man nicht
getrunken hatte, begann sie, sich den Nacken zu massieren. Ich brauche dringend Training, dachte sie und stellte wieder einmal mit Bedauern fest, daß ihre Arbeit - abgesehen davon, daß sie sie zwang, sich mit Idioten wie Ferguson abzugeben - ihr viel weniger Zeit für körperliche Betätigung ließ, als ihr lieb war. Wäre es nach ihr gegangen, so wäre sie schon vor Stunden draußen beim Rudern gewesen, anstatt zu tun, was die Pflicht von ihr verlangte: die Anrufe zu erwidern, die sich im Lauf des Tages angesammelt hatten.
Sie warf ihren letzten Telefonzettel in den Papierkorb und die Tomatensaftdose hintendrein. Gerade stopfte sie einen Packen Hefter in ihre große Leinentasche, als eine der Beamtinnen, die zum Ermittlungsteam im Fall Querashi gehörten, mit einem seltenlangen Fax an der Tür erschien.
»Das sind die Informationen über Muhannad Malik, um die Sie gebeten haben«, erklärte Belinda Warner. »Die politische Abteilung Clacton hat sie eben rübergeschickt. Wollen Sie sie jetzt haben oder lieber erst morgen?«
Emily nahm die Papiere an sich. »Ist was dabei, was wir nicht schon wissen?«
Belinda zuckte die Achseln. »Also, wenn Sie mich fragen, ein Musterknabe ist er bestimmt nicht. Aber eine Bestätigung werden Sie in dem Bericht nicht finden.«
Emily hatte nichts anderes erwartet. Sie nickte zum Dank, und Belinda Warner ging wieder hinaus. Einen Augenblick später hörte Emily den Klang ihrer Schritte auf der Treppe des schlecht belüfteten Gebäudes, in dem die Polizeidienststelle von Balford-le-Nez untergebracht war.
Ihrer Gewohnheit gemäß sah Emily zunächst einmal den ganzen Bericht rasch durch, ehe sie ihn genauer studierte. Dabei hatte sie vor allem eins im Kopf: Rassenunruhen waren das letzte, was diese Stadt brauchte, doch der ungeklärte Todesfall auf dem Nez drohte genau das nach sich zu ziehen. Im Juni begann die Touristensaison, und dank der gegenwärtigen Hitzewelle, die die Städter ans Meer trieb, hoffte ganz Balford, daß nach der langen Rezession nun endlich der Aufschwung kommen würde. Aber die erwarteten Besucherströme würden sich gewiß nicht einstellen, wenn Rassenspannungen die Bewohner der Stadt dazu trieben, ihren Konflikt auf der Straße auszutragen, das war allen Geschäftsleuten in Balford klar. Einen Mord zu untersuchen und dabei zu vermeiden, daß es zum offenen Schlagabtausch zwischen den Gruppen kam, das war die heikle Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte. Daß Balford gefährlich nahe am Rande eines englisch-pakistanischen Zusammenstoßes stand, war ja an diesem Tag offenkundig geworden.
Überbringer der Botschaft war, unterstützt von seinen Gesinnungsgenossen, Muhannad Malik gewesen. Emily kannte den jungen Pakistani seit der Zeit, als sie noch Streifenbeamtin gewesen war. Damals hatte er, ein Teenager noch, das erste Mal ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Emily, die in den Straßen von Südlondon aufgewachsen war, hatte früh gelernt, sich in meist rassistisch motivierten Konflikten zu behaupten, und sich dabei im Lauf der Zeit ein dickes Fell zugelegt, von dem alle Hänseleien über ihre Hautfarbe abprallten. Sie hatte deshalb als junge Polizeibeamtin wenig übrig gehabt für solche Leute, die, wenn ihnen etwas nicht paßte, immer gleich Rassendiskriminierung schrien. Und Muhannad Malik war darin schon mit sechzehn ganz groß gewesen.
Sie hatte es sich abgewöhnt, seinen Worten zu trauen. Sie hatte sich ganz einfach geweigert zu glauben, daß jede Schwierigkeit in seinem Leben auf Rassismus zurückzuführen sei. Jetzt jedoch ging es um Mord, und das Opfer war ein Pakistani, der Ehemann in spe von Muhannad Maliks Schwester. Natürlich würde Malik angesichts dieses Mordes versuchen, eine Verbindung zum Rassismus herzustellen, den er überall um sich herum zu sehen behauptete.
Und wenn sich eine solche Verbindung feststellen lassen würde, wäre die Folge genau das, was Donald Ferguson fürchtete: ein Sommer voll Konflikte, Aggressionen und Blutvergießen, auf den die Tumulte dieses Nachmittags einen Vorgeschmack gegeben hatten.
In Reaktion auf die Ereignisse bei der Stadtratssitzung und auf der Straße waren die Telefone auf der Polizeidienststelle heißgelaufen, da die Transparente und Steinwürfe die Bürger von Balford auf die extremistischen Terrorakte gebracht hatten, die in den letzten Jahren überall auf der Welt vorgekommen waren. Einer dieser Anrufe war von der Bürgermeisterin gekommen. Er hatte dazu geführt, daß ein förmliches
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